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# taz.de -- Samstagnachmittag im Café: Eine Stunde Wärme
> Der Mann umklammert seinen Kaffee und setzt sich an den Tisch neben uns.
> Er sieht krank aus. Aber er hat keinen anderen Ort, an den er gehen
> könnte.
Bild: Kann eine Eintrittskarte für einen geheizten Ort sein: Tasse Kaffee
Café-Stimmung. Gespräche, Geklapper, Lachen, Zeitungsrascheln,
Versunkenheit. Inmitten dieses gemütlichen Dahinfließens der Zeit an einem
Samstagnachmittag sitzen meine Gesprächspartnerin und ich an einem
Ecktisch.
Nach kurzer Zeit tritt ein Mann mit einem Kaffee an den Tisch eng neben uns
in der Ecke. Sein Bart ist lang, seine Kleidung abgewetzt, an seinem Gürtel
klimpert allerhand praktisches Zeug. Als wollte er möglichst viele
Utensilien nah bei sich am Körper haben. Er drückt sich nah an die Wand und
hustet.
Meine Gesprächspartnerin schaut ihn misstrauisch an. Sie hat gerade Angst
davor, [1][krank zu werden]. Ich fühle mich für einen Moment zurückversetzt
in die Zeit der Covid-Pandemie, als man Menschen vor allem als potenzielle
Virenübertragende wahrgenommen hat.
Nach einiger Zeit bemerke ich, wie der Mann seine Jacke über seinen Körper
ausbreitet und bis ans Kinn zieht. Er drückt sich in die Ecke, wie ein
Kind, das Schutz sucht. Er sieht offensichtlich krank aus. Als würde er
stark frieren. Als wäre ihm jämmerlich zumute. „Entschuldigen Sie“, frage
ich, „geht es ihnen nicht gut?“
„Mir ist so [2][kalt]“, sagt der Mann. „Deswegen bin ich von der Straße
reingekommen.“
„Leben Sie auf der Straße?“, frage ich. Er nickt.
Ich erinnere mich an dieses Gefühl, krank zu sein, wenn einem so unwohl
zumute ist, dass man gar nicht richtig weiß, wohin mit sich. Der Mann hat
keinen Ort, um sein Kranksein zu ertragen. Kein Bett zum Ausstrecken und
Umherwälzen, keine Heizung, die er anstellen kann.
„Aber ich bin jetzt hier rein, weil es hier wärmer ist“, sagt er tapfer.
Ich begreife, dass der ausgetrunkene Kaffee, den er vor sich stehen hat,
sein Ticket ist für eine knappe Stunde Wärme.
„Kann man Ihnen irgendwie helfen?“, frage ich und höre mich selbst die
unpersönliche Form des „man“ nutzen.
„Vielleicht noch ein Kaffee“, sagt der Mann. Seine Augen leuchten. „Und e…
Stück Kuchen“, fügt er dann hinzu. Unmerklich richtet sich der Mann auf. Es
wirkt, als wären seine Lebensgeister für einen Moment erwacht. Ich bemerke
einen scheinbar unerschütterlichen Überlebenswillen. Wie er seine Chance
nutzt, wenn sie sich bietet. Er hustet wieder.
„Okay“, sage ich, „dann bestelle ich das.“
„Der ist krank“, raunt mir meine Gesprächspartnerin zu. „Lass uns
vielleicht besser gehen.“ Sie stürzt den Rest ihres Getränks herunter. Sie
geht an seinem Tisch vorbei mit mir zum Tresen, um für den Mann zu
bestellen.
Doch der Mann steht nun auch auf und kommt uns aus der Ecke nach. „Welches
Kuchenstück möchten Sie denn?“, frage ich und zeige auf die Glasvitrine, wo
die verschiedenen Kuchen ausgestellt sind. Er sucht sich ein Stück aus und
geht zu seinem Platz zurück.
Meine Gesprächspartnerin wartet an der Tür. Ich nehme auch meine Jacke vom
Platz. „Wir wollten eh gehen“, sage ich wie entschuldigend zu dem Mann. Als
wir draußen auf der Straße stehen, tut es mir leid, dass der Mann jetzt
allein mit Kaffee und Kuchen in der Ecke sitzt.
## Der Mann bräuchte nicht nur Kaffee und Kuchen
„Uh“, sagt meine Gesprächspartnerin. „Hat der gehustet. Hoffentlich haben
wir uns nicht angesteckt. Er bräuchte jetzt eigentlich eine Suppe“, sagt
sie. Ja, er bräuchte ein [3][richtiges Bett]. Einen heißen Tee. Auch wenn
Kaffee und Kuchen besser sind als nichts, auch wenn ich die Angst davor
verstehe, sich so direkt neben einem kranken Menschen anzustecken, spüre
ich das unruhige Gefühl, etwas begonnen, aber nicht richtig zu Ende
gebracht zu haben. Wie wenn man einem Kind Süßigkeiten schenkt, aber keine
Zeit. Aber der Mann war kein Kind.
Sich anstecken. Was bedeutet das eigentlich? Sich anstecken lassen von
Krankheit. Von einem Lachen. Von Witz, von Freude. Sich anstecken heißt
andocken an etwas.
Später, als es dunkel wird, denke ich wieder an den Mann. Was er jetzt wohl
macht, nachdem er seinen Kaffee ausgetrunken und sein Kuchenstück gegessen
hat und wieder krank [4][hinaus auf die Straße] getreten ist.
14 Dec 2023
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## AUTOREN
Christa Pfafferott
## TAGS
Kolumne Zwischen Menschen
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Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin
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