# taz.de -- SSW-Politiker Seidler im Bundestag: Der Einzelkämpfer | |
> Stefan Seidler repräsentiert künftig die Dänen im Bundestag. Ortsbesuch | |
> bei einem Volksvertreter, der die Rechte von Minderheiten hochhalten | |
> will. | |
Bild: Angekommen in der deutschen Volksvertretung: Stefan Seidler in Berlin im … | |
KIEL taz | Der Mann klettert im blauen Anzug aus einem nachgebauten | |
Wikingerboot. Er tritt in Wahlkampfrunden gegen den Grünen-Superstar Robert | |
Habeck an. Er lächelt immer noch freundlich von den Plakaten herunter, die | |
in Flensburg hängen geblieben sind. Stefan Seidler war Spitzenkandidat des | |
Südschleswigschen Wählerverbands (SSW). Und weil er gewählt worden ist, | |
sitzt jetzt zum ersten Mal seit dem Jahr 1953 wieder ein Vertreter der | |
dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein im Deutschen Bundestag. Wer ist | |
dieser Stefan Seidler? | |
In seinem Wahlkampfbüro, das in einem ehemaligen Ladengeschäft in der | |
Flensburger Norderstraße untergebracht ist, sitzt Seidler hinter der | |
Schaufensterscheibe an einem Konferenztisch und lächelt ebenso wie auf den | |
Plakaten. Auch die Metallbrille ist dieselbe und der eiförmige Kopf, der | |
mit Haarflaum bedeckt ist. Nur sein Gesichtsausdruck ist müder und die | |
Stimme hörbar heiser. Seit dem Moment, als sicher war, dass Seidler für den | |
SSW in den Bundestag einziehen wird, hat er praktisch keine Minute Ruhe | |
mehr erlebt. Neben den Berliner politischen Alphatieren dürfte er der | |
zurzeit am meisten gefragte Abgeordnete sein. | |
Seidler hat sein Mandat einer Ausnahmeregel zu verdanken, die | |
Minderheitenparteien von der Fünfprozenthürde befreit. Trotzdem zieht der | |
Südschleswigsche Wählerverband nicht automatisch ins Parlament ein, sondern | |
muss so viele Stimmen erhalten, wie ein Sitz rechnerisch wert ist. Rund | |
40.000 sollten reichen, so die Schätzung vor der Wahl. Der SSW startete die | |
„Mission Bundestag“, als Logo wählte sie ein Wikingerschiff mit prallen | |
Segeln, auch wenn der Spitzenkandidat nicht wirkt, als würde er sich mit | |
Met-Humpen und Hörnerhelm wohlfühlen. | |
Dieser Gegensatz sei durchaus gewollt, sagt Seidler. Offenbar kamen Idee | |
und Person an: Der SSW, der nur in Schleswig-Holstein antrat, erzielte über | |
50.000 Stimmen. | |
Rund 300 Presseanfragen habe es gegeben, berichtet Seidler. Die skurrilste | |
Situation: „Einmal hatte ich einen Termin vergessen und lag noch im Bett, | |
als der NDR anrief. Später haben Bekannte mir gesagt, es sei ein wirklich | |
gutes Interview gewesen.“ | |
## Eigentlich ein schüchterner Mensch | |
Dabei war Seidler bisher eher der politische Sherpa als derjenige, der | |
selbst ganz vorne stand. Als Dänemark-Koordinator hat er für die | |
Landesregierung in Kiel gearbeitet, hat südlich und nördlich der Grenze | |
Fäden geknüpft, Treffen vorbereitet und Gruppen zusammengebracht, die | |
normalerweise nicht viel miteinander zu reden haben. Jenseits der | |
regionalen Projekte lief über den Draht zwischen Kiel und Kopenhagen oft | |
sogar ein Stück informeller Außenpolitik mit dem dänischen Nachbarn. | |
Auch der Umgang mit der Presse gehörte zu Seidlers Job, aber eher aus dem | |
Hintergrund heraus: „Ich habe vor Interviews das Briefing gemacht.“ Jetzt | |
gibt er die Interviews selbst, auch wenn die Stimme fast versagt. „Dabei | |
bin ich eigentlich ein eher schüchterner Mensch“, sagt er über sich selbst. | |
Sein Parteifreund und langjähriger Landtagsabgeordnete Lars Harms | |
beschreibt das so: „Stefan stellt sich nicht selbst in den Vordergrund, | |
aber die Aufgabe, die er hat, nimmt er sehr ernst.“ | |
Durch die offene Tür des Wahlkampfbüros kommt ein junger Mann herein. Er | |
trägt Jeans und eine Windjacke, unter der eine ausgefranste Weste | |
heraushängt. Seidler steht auf, will den Mann vertrösten – doch der fragt: | |
„Sie setzen sich doch für alle Minderheiten ein, nicht nur für die | |
dänische?“ Es stellt sich heraus, dass der Besucher ein Rom ist, der als | |
Kind Mobbing erlebt hat. Nun nimmt Seidler sich Zeit für das Gespräch, | |
überreicht dem Mann sein Wahlprogramm und versichert, dass er sich im | |
Bundestag für alle Minderheiten einsetzen will, neben Sinti und Roma auch | |
für die sorbische. | |
Nachdem der Mann gegangen ist, schüttelt Seidler den Kopf: „Schreckliche | |
Vorstellung, dass ich meinen Töchtern verbieten müsste, über ihre Herkunft | |
zu sprechen.“ Der Umgang mit Minderheiten zeige den Zustand der | |
Gesellschaft: „Die Rechten versuchen, Minderheiten an den Rand zu drängen | |
und ihre Wünsche hintenan zu stellen.“ Gegen diese Tendenz will er sich | |
einsetzen: „Wenn irgendwelche Flitzpiepen vor dem Reichstag die Flossen | |
hochreißen, sitze ich drinnen und habe bei meiner ersten Rede vielleicht | |
den dänischen Danebrog oder die friesische Fahne am Revers.“ | |
## Rechte von Minderheiten stärken | |
Wieder steckt jemand den Kopf zur offenen Tür des Büros herein und wünscht | |
viel Glück. „So geht das ständig“, sagt Seidler. Seine aktuelle Beliebthe… | |
findet er durchaus erfreulich, aber es bestehe auch die Gefahr, als | |
„Maskottchen zu Tode geliebt zu werden“. Jede Partei beteuere, offen für | |
die Belange der Minderheiten zu sein, „aber wenn man in die Programme | |
schaut, steht da nichts drin“. | |
Neben Minderheiten-Rechten will Seidler mehr für Schleswig-Holstein | |
erreichen, eine „Allianz für den Norden“ schaffen. Denn das Land komme oft | |
zu schlecht weg, meint er und nennt Beispiele: „Hohe Strompreise, obwohl | |
wir Vorreiter bei der Energiewende sind, niedrige Zuschüsse für | |
Krankenhausbetten und kaum Bundesmittel für Infrastrukturausbau“. Die | |
Bahnverbindung zwischen Flensburg und Hamburg etwa sei „fürchterlich“. | |
Seidler wird dennoch regelmäßig den Zug nach Berlin nehmen. | |
Seidler ist 41 Jahre alt, „verheiratet mit Marianne, Lisbeths und Helenes | |
Papa“, so steht es in seiner Selbstbeschreibung. Der gebürtige Flensburger | |
nennt das Innenstadtviertel rund um sein Wahlkampfbüro in der Norderstraße | |
seinen „Kiez“. Die dänische Bibliothek liegt in derselben Straße, in den | |
Lokalen wird dänisches Gebäck serviert. Hinter einer Toreinfahrt öffnet | |
sich ein Hof, an dem die Organisationen der dänischen Minderheit | |
residieren: Das Torhaus, so verrät es eine Inschrift, ist aus den Steinen | |
eines alten Königsschlosses erbaut und war im Lauf seiner Existenz bereits | |
Waisenhaus, Zuchthaus und Kaserne. | |
Heute haben hier der SSW, die politische Stimme der Minderheit, der | |
Südschleswigsche Verein, der sich um Bildung und Kultur kümmert, und die | |
Sydslesvigs danske Ungdomsforeninger, die Jugendvereinigungen, ihre Büros. | |
In Seidlers Familie spiegelt sich die verwobene Geschichte des Grenzlandes | |
wider: „Meine Mutter ist Dänin, aber mein Urgroßonkel ist im Ersten | |
Weltkrieg für Deutschland gefallen. Die Familie meines Vaters hat nach der | |
Grenzziehung 1920 ihre dänischen Wurzeln verleugnet – und dann kam mein | |
Vater mit einer Dänin nach Hause.“ | |
Seidler wuchs zweisprachig auf, hat in Flensburg die dänischen Schulen | |
durchlaufen, zuletzt das Gymnasium Duborg Skolen, das auf einem Hügel über | |
der Norderstraße thront. Damals begann er, sich für den Südschleswigschen | |
Wählerverband zu engagieren, auch dank seiner Lehrerin, der späteren | |
Landtagsabgeordneten Anke Spoorendonk, die er seine „politische Ziehmutter“ | |
nennt. | |
2012, als der SSW im Kieler Landtag eine Koalition mit SPD und Grünen | |
einging, erhielt Spoorendonk den ersten Ministerposten für die Partei und | |
holte Seidler als Koordinator für grenzüberschreitende Projekte ins Justiz- | |
und Europaministerium. Zuvor war der Politikwissenschaftler auf der | |
dänischen Seite einer ähnlichen Aufgabe nachgegangen. | |
Das Leben und Arbeiten auf beiden Seiten der Grenze ist schwieriger | |
geworden, seit in Dänemark nationalistische Kräfte erstarkt sind. Sichtbar | |
wird das an dem meterhohen Metallzaun, der sich an der deutsch-dänischen | |
Grenze entlang zieht und wandernde Wildschweine fernhalten soll, und an den | |
Grenzkontrollen. | |
Stefan Seidler, der lebenslange Grenzgänger, schaut für seine Verhältnisse | |
grimmig drein, wenn das Gespräch auf die neuen rechten Kräfte und die | |
daraus folgenden Probleme kommt. Die „reine Symbolpolitik“ belaste die | |
Angehörigen der Minderheiten besonders, weil sie am häufigsten von einer | |
Seite auf die andere wechseln: „Es nervt, dieses blöde Stück Pappe ständig | |
vorzeigen zu müssen.“ | |
Dass der Südschleswigsche Wählerverband auch immer ein bisschen | |
mitverantwortlich gemacht wird für die dänische Politik, ist Seidler | |
bewusst. Gleichzeitig verweisen die drei SSW-Abgeordneten im Kieler Landtag | |
in schöner Regelmäßigkeit auf Dinge, die bei den nördlichen Nachbarn gut | |
laufen. Das will Seidler auch im Bundestag machen, er hält viel von der | |
pragmatischen und offenen skandinavischen Lebensart: „Hygge“, | |
Gemütlichkeit, gehört für ihn dazu, aber auch ein Demokratieverständnis, | |
das Minderheitenregierungen möglich macht, und die Bedeutung von Kultur und | |
Bildung betont. | |
Seidler ist klar, dass er als Einzelkämpfer unter 730 Abgeordneten wenig | |
durchsetzen kann, allein weil Fraktionslose weder Gesetzesinitiativen | |
starten noch Plenardebatten beantragen können und Ausschüssen nur als | |
beratende Mitglieder angehören dürfen. Statt auf Rhetorik im Plenum zu | |
setzen, wird er eher Kontakte knüpfen, Netze spinnen, wie er es in seinen | |
bisherigen Funktionen getan hat. | |
## Seidler will Einzelkämpfer bleiben | |
Das Angebot der SPD, sich ihrer Fraktion anzuschließen, hat Seidler | |
ausgeschlagen: „Wir haben im Wahlkampf betont, dass wir unabhängig sind und | |
eigene Themen setzen wollen“, sagt er. Aber so oder so werde er im | |
Parlament nicht einsam sein, meint er: „Die Bundestagsverwaltung bemüht | |
sich rührend um mich.“ Inzwischen hat er seinen Bundestagsausweis erhalten, | |
nur ein Büro fehlt noch. In Berlin wird er sich ein Zimmer suchen, das er | |
aber nur während der Sitzungswochen bewohnen wird. | |
„Ich bleibe im Norden“, sagt er. Weil er die Region liebt, und wegen seiner | |
Töchter, 12 und 14 Jahre alt: „Ihre Karrieren sollen nicht unter Papas | |
Karriere leiden.“ Gesprochen wie ein moderner Wikinger. | |
13 Oct 2021 | |
## AUTOREN | |
Esther Geißlinger | |
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