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# taz.de -- SPD-Parteitag: Blassrot bis tiefschwarz
> Die SPD hat es schwer, neben der hypernervösen Merz-Union sichtbar zu
> bleiben. Auf der Suche nach einer eigenen Erzählung wirkt sie ideenlos.
Vor dreieinhalb Jahren hat Lars Klingbeil auf einem SPD-Parteitag
verkündet, dass „der Sieg bei der Bundestagswahl mir nicht reicht“ und er
ein „sozialdemokratisches Jahrzehnt“ anvisiere. Lassen wir die naheliegende
Häme beiseite, auch wenn diese Mixtur aus Hybris und Werbesprech sie
verdient hätte. Die SPD-Spitze glaubte vor drei Jahren, dass die
Sozialdemokratie ein historisches Projekt managen werde, den klimaneutralen
Umbau der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt.
Die SPD würde wie in der sozialliberalen Ära nach 1969 im Bündnis mit dem
aufgeklärten Bürgertum unter dem Banner des Fortschritts die Gesellschaft
verändern. All das ist zu Asche geworden. Der neue Generalsekretär [1][Tim
Klüssendorf] verspricht eine Aufarbeitung der Wahlniederlage, bei der „kein
Stein auf dem anderen bleiben“ soll. Diese forsche Ansage steht recht
einsam neben der Tatsache, dass alles bleibt, wie es war. Olaf Scholz heißt
jetzt Lars Klingbeil.
Die Ansage „Alles wird neu“ überdeckt, dass die SPD tut, was sie immer
macht: Sie arbeitet leise und ruckelfrei im Maschinenraum der nächsten
schwarz-roten Regierung. Umstürzlerische Ansagen mit routiniertem
Weitermachen zu verbinden war immer schon eine sozialdemokratische
Kernkompetenz. Selbstkritik ist nach 30 Jahren fast ununterbrochenen
Regierens ein Ritual, das den Anschein von selbstkritischem Vermögen
simulieren soll. Und doch hat sich etwas verändert.
Die Merkel-Union setzte auf pragmatisches Politikmanagement und ließ der
SPD Raum. Jetzt haben es die Sozialdemokraten mit einer hypernervösen Union
zu tun, die die AfD mit einer Doppelstrategie aus machtpolitischer
Quarantäne und Imitieren bekämpfen will. Wie schwer es der SPD fällt, mit
dieser Unionsmixtur aus markiger Entschlossenheit und Getriebenheit
klarzukommen, zeigt exemplarisch die Reaktion auf den neuen
Migrationskurs.
## Hubig eher zögerlich
Innenminister Dobrindt will die AfD kleinkriegen, indem er sie kopiert, und
fast alle Asylbewerber an der Grenze zurückweisen. [2][Kürzlich urteilte
ein Gericht], dass dies im Fall dreier Somalier rechtswidrig war – weil es
mit EU-Recht kollidiert. Dobrindt erklärte unbeirrt, dieses Urteil ändere
nichts an seinem Kurs. Justiz- und Innenministerium sind klassische
Konterparts.
Als Unionspolitiker 2011 Urteile zur Sicherheitsverwahrung und zur
Vorratsdatenspeicherung attackierten, gab die damalige FDP-Justizministerin
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sofort Kontra, forderte Respekt für die
Urteile und die Unabhängigkeit der Justiz. Die SPD-Justizministerin
Stefanie Hubig mahnte, dass die Einzelfall-Entscheidung des
Verwaltungsgerichts befolgt werden müsse und betonte, dass sie [3][mit dem
Innenministerium sachlich und fachlich gut zusammenarbeite]. Einerseits,
anderseits. Nach zehn Tagen forderte sie Dobrindt auf, seine Rechtsposition
darzulegen. Ein ganz scharfes Schwert … Dies zeigt, wie eng der Spielraum
der SPD in der Merz-Regierung ist.
Die SPD – leidenschaftliche Verteidigerin des EU-Rechts – hätte Alarm
schlagen müssen. Das aber hätte beim Kernprojekt der Union Stress bedeutet.
Ampel Nummer zwei will niemand. Außerdem ist die SPD-Klientel beim Thema
Migration gespalten. Manche ticken wie die Grünen, andere wollen einen
schroffen Antimigrationskurs. Als taktische Unfallvermeidung wirkt Hubigs
Zögerlichkeit sogar rational. Kein Koalitionskrach, aber kurz die Fahne
gehisst.
Aber ist die SPD noch immer gegen Zurückweisungen, die gegen EU-Recht
verstoßen? Ein bisschen? Die SPD zahlt für das Regieren einen Preis. Sie
wird unsichtbar.
Die SPD hat auf die Wahlniederlage mit Machtkonzentration reagiert. Lars
Klingbeil, Vizekanzler, Finanzminister, Parteichef, verfügt über so viel
Einfluss wie seit Jahrzehnten kein anderer in der SPD. Klingbeil hat die
potenzielle Konkurrenz aus dem Weg geräumt und [4][Jüngere zu
MinisterInnen] gemacht. Klingbeil und Bärbel Bas als SPD-Spitze sind die
einflussreichsten SPD-MinisterInnen.
## Im Klammergriff von Sachzwängen
2019 hatte die Partei begriffen, dass es SPD-ChefInnen, die in die
Kabinettsdisziplin eingebunden sind, an Beinfreiheit fehlt und man das
Regieren und die Partei besser trennt – um nicht an Pragmatismus und
Ideenarmut zu ersticken. Diese Lektion ist schnell in Vergessenheit
geraten. Farblose MinisterInnen, eine Partei im Klammergriff der
Sachzwangslogik – das kann toxisch werden. Wie fatal die Rolle als
freundlicher Handlanger von ideologisch aufgerüsteten Konservativen enden
kann, zeigte sich in den Niederlanden.
Dort stürzte eine konturlose Sozialdemokratie 2017 als Juniorpartner von
Mark Rutte von 25 auf 5 Prozent ab. Es gibt einen Grund für den
selbstvergessenen Pragmatismus der Klingbeil-SPD. Schwarz-Rot war die
einzig mögliche Regierung ohne AfD. AfD ante portas ist zwar ein
kraftvolles Motiv. Aber etwas nur zu verhindern ist sandiger Grund. Dass
alles andere schlimmer wäre, ist kein Ersatz für eine eigene Erzählung. Hat
die SPD so etwas? Sucht sie wenigstens danach?
Die Bundesrepublik ist eine alternde, veränderungsmüde Gesellschaft, die
sich von dem Veränderungsdruck – Klimaumbau, Digitalisierung, Ende des
Westens – überfordert fühlt. Diese Gesellschaft will keine
Fortschrittsprosa, sondern Sicherheit. Die SPD hat mit Boris Pistorius und
Bärbel Bas zwei starke Figuren. Können sie Soziales und Äußeres zu einem
authentisch sozialdemokratischen Sicherheitsversprechen verknüpfen?
Pistorius’ markiges Auftreten ist populär. Aber das Wesentliche fehlt.
Es gibt kein sozialdemokratisches Konzept einer Sicherheits- und
Friedenspolitik nach dem Ende des Westens. Die SPD diskutiert immerhin,
anders als die Union. Die Debatte hat aber auf beiden Seiten etwas
Sepiafarbenes. Die [5][Transatlantiker] beschwören noch immer die Nato und
hoffen, dass Donald Trump nur ein böser Traum ist. Die
Manifest-Friedensfraktion projiziert die Rezepte der Entspannungspolitik
des Kalten Kriegs auf die zerklüftete Gegenwart und unterschätzt den
russischen Revanchismus.
## Mindestlohn bei 14.60 Euro
Dass der Westen verschwindet und Europa alleine für seine Sicherheit sorgen
muss, ist weder hier noch dort angekommen. Es ginge also darum, in einer
vom Recht des Stärkeren beherrschten Welt robuste Verteidigung mit
Diplomatie zu verbinden. Die Scholz-Regierung hatte mit dem tastenden
Versuch, Brasilien, Indien, [6][Südafrika] und Indonesien als Partner in
der Unterstützung der Ukraine zu gewinnen, einen ersten Schritt gemacht.
Doch das war die Ausnahme.
Meist gelten die alten Muster des Kalten Kriegs. Die Tragweite der Frage,
was nach dem Westen kommt, ist in der SPD noch nicht angekommen. Spoiler:
Die Unterstützung [7][völkerrechtswidriger Angriffskriege] oder nur
Aufrüstung sind keine sozialdemokratischen Antworten. Ähnlich zwiespältig
wirkt der Auftritt beim Thema Arbeit. Der Kompromiss zum [8][Mindestlohn]
zeigt die Machtlosigkeit der SPD. Sie hatte fast ultimativ auf 15 Euro im
nächsten Jahr beharrt. Nun muss sie leicht zerknirscht 14,60 in zwei Jahren
als Erfolg verkaufen.
Programmtisch rückt Klingbeil die „hart arbeitende Mitte“, ein Evergreen
sozialdemokratischer Rhetorik, ins Zentrum. Die arbeitende Mitte gegen
faule Bürgergeldempfänger in Stellung zu bringen, riecht nach rechter
Ausgrenzungslogik. Im schlechtesten Fall gibt die SPD den Dobrindt und
versucht die AfD durch Imitation zu bekämpfen.
Bärbel Bas’ Biografie hebt sich zwar erfreulich von den kieselsteinglatten
Karrieren ab, bei denen auf Jurastudium und Jusokarriere der Job im
Abgeordnetenbüro und der Aufstieg zum Staatssekretär folgen. Aber Bas’
street credibility übertüncht die programmatische Leere der SPD. Es mag
sogar sein, dass es für eine Partei der Arbeit angesichts des
Arbeitskräftemangels und der Verrentung der Boomer eine gewisse
Plausibilität hat, den Druck auf Bürgergeldempfänger zu erhöhen.
## Größter Erfolg schon Vergangenheit?
Aber nur das Bürgergeld rückabzuwickeln und die Attacken von [9][Carsten
Linnemann und Co] auf den Sozialstaat abzuwehren, reicht nicht als
Verteidigung der Mitte in ungemütlichen Zeiten. Eine sozialdemokratische
Erzählung, die Gerechtigkeit für sich reklamieren will, braucht Druck nach
unten und nach oben. Bas’ Vorschlag, Beamte in die Rentenkasse zu
integrieren, zielte darauf. Aber das wird, anders als die Verschärfungen
bei der Grundsicherung, ein Wunsch bleiben.
Die Merz-Regierung wird weder Beamtenprivilegien streichen noch die Steuern
für Superreiche erhöhen. Zum Thema Arbeit ist nur das Tariftreuegesetz als
Textteil einer authentisch sozialdemokratischen Erzählung erkennbar. Es
kann sein, dass der größte Erfolg der SPD in dieser Regierung schon hinter
ihr liegt. Die Union hat unter dem Druck von Krise und Ukrainekrieg ihren
Schuldenbremsenfetischismus überwunden – mit freundlicher Unterstützung von
SPD und Grünen.
Damit ist die politisch katastrophale Situation halbwegs umschifft, dass
Schwarz-Rot Drohnen baut und dafür Kitaplätze streicht und Renten kürzt.
Dieses Waffenbeschaffungsprogramm wäre ein Wählerbeschaffungsprogramm für
die AfD gewesen. Aber eine sozialdemokratische Agenda für die Ära, in der
Überforderungsgefühle und Veränderungsdruck gleichzeitig wachsen, gibt es
nicht – nicht als Idee, nicht als Realpolitik. Diese Groko wird tiefschwarz
und blassrot.
[Anm. d. Red.: In einer früheren Fassung dieses Textes stand, dass
SPD-Justizministerin Stefanie Hubig sich zehn Tage lang nicht zu dem
Zurückweisungs-Urteil geäußert hat. Das ist falsch. Wir haben die Stelle
korrigiert. ]
27 Jun 2025
## LINKS
[1] /SPD-Linker-Tim-Kluessendorf/!6068636
[2] /Urteil-zu-Asylpolitik/!6088379
[3] https://table.media/berlin/analyse/koalitionsschonende-kritik-wie-justizmin…
[4] /Die-neuen-SPD-MinisterInnen/!6086240
[5] /Nato-Gipfel/!6093070
[6] /Scholz-Besuch-in-Afrika/!5853671
[7] /Konflikt-zwischen-Iran-und-Israel/!6092905
[8] /Mindestlohn/!t5008042
[9] /Buergergeld-Populismus-der-CDU/!6057071
## AUTOREN
Stefan Reinecke
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