# taz.de -- SOS-Kinderdorf in Moabit: Eine andere Art von Zuhause | |
> Die 2005 eröffnete Einrichtung in Moabit war das erste SOS-Kinderdorf in | |
> einer Großstadt. 24 Kinder leben hier in familienähnlichen Strukturen | |
> zusammen. | |
Bild: Lesestunde im SOS-Kinderdorf Moabit | |
Samstag ist ein besonderer Tag im SOS-Kinderdorf in Moabit. Es ist der Tag | |
in der Woche, den die meisten Kinder mit ihren Eltern oder einem Elternteil | |
verbringen. Doch bevor sie abgeholt werden oder sich allein auf den Weg | |
machen, sitzen sie beim gemeinsamen Frühstück an dem großen Holztisch in | |
der Wohnküche. | |
Gute Gelegenheit, noch ein paar Sachen mit ihrer Kinderdorfmutter Christine | |
Müller zu klären. „Kann Vilou heute wieder bei mir übernachten?“, fragt | |
Vanessa. „Ja, bitte!“, sagt auch Vilou. „Mir wäre ja lieb, wenn das nicht | |
immer hin und her geht“, wiegelt Kinderdorfmutter Christine Müller ab. | |
„Aber ihr könnt die Matratze ja mal in deinem Zimmer liegen lassen, dann | |
besprechen wir das heute Abend noch mal.“ | |
Zoë, mit elf Jahren die Jüngste in Christine Müllers Gruppe, durfte sich | |
heute morgen zum ersten Mal künstliche Nägel ankleben. So wie die Großen es | |
ab und zu machen. Zoë greift nach einer Mandarine. „Christine, kannst du | |
mir die Schale aufmachen?“, fragt sie. „Na, das kannst du doch eigentlich | |
selbst?“, sagt Müller – um im nächsten Moment mit den anderen Mädchen in | |
Lachen auszubrechen, als Zoë „Geht damit nicht“ sagt, und halb unsicher, | |
halb belustigt grinsend mit ihren langen künstlichen Nägeln klimpert. | |
Vilou nimmt ihr die Mandarine ab, geübt öffnet sie mit Hilfe ihrer | |
künstlichen Nägel die Schale. Und Vanessa verkündet, dass sie sich heute | |
mit einem Freund treffen wird und erst gegen Abend nach Hause kommt. Sie | |
geht in ihr Zimmer, um sich fertig zu machen. | |
## Präventiver Ansatz | |
Das Kinderdorf in Moabit, 2005 eröffnet, war das erste SOS-Kinderdorf in | |
einer Großstadt. Vier Familien mit Platz für 24 Kinder leben hier, | |
allerdings nicht in einer klassischen Dorfsituation wie es sonst typisch | |
ist, sondern in großen Wohnungen auf zwei Häuser verteilt. „Der | |
SOS-Kinderdorf e. V. hat damals entschieden, wir müssen direkt in die | |
Stadt, dorthin, wo Hilfe am dringendsten gebraucht wird“, erklärt Barbara | |
Winter von der Öffentlichkeitsarbeit im Kinderdorf Berlin. | |
Ein Familienzentrum für den umgebenden Stadtteil gehört zum Kinderdorf. | |
Seit 2005 steht das sechsstöckige, hell und offen gestaltete Gebäude in der | |
Waldstraße, neben den Wohnungen für zwei Kinderdorffamilien sind hier ein | |
Café mit Familientreff, eine Kita, Beratungsangebote und Kursräume | |
untergebracht. | |
„Die Idee war, mitten in Moabit einen einladenden Bereich zu schaffen für | |
Menschen, die Schutz oder auch Freizeitbeschäftigung suchen“, sagt Winter. | |
„Der präventive Ansatz ist Teil unserer frühen Hilfen, damit es gar nicht | |
erst so weit kommt, dass Kinder ihre Familien verlassen müssen.“ Mit den | |
Angeboten von Straßenspielen bis zu Erziehungsberatung, von Mittagessen bis | |
zu Kunstprojekten und Musikunterricht erreichten sie inzwischen rund 300 | |
Menschen am Tag. | |
Die leiblichen Eltern der Kinder, die ins SOS-Kinderdorf kommen, sind aus | |
den unterschiedlichsten Gründen nicht mehr fähig, die Verantwortung für | |
ihre Kinder zu übernehmen und sie zu erziehen. Das kann krankheitsbedingt | |
sein, auch wegen psychischer Probleme, wegen Drogen- oder | |
Alkoholmissbrauch, Gewalt oder Vernachlässigung. | |
## Bindungen aufbauen | |
Das Jugendamt vermittelt die Kinder. „Dann geht es in erster Linie darum, | |
Bindungen aufzubauen und ihnen eine andere Art von Zuhause zu bieten“, | |
erklärt Kinderdorfmutter Christine Müller. Aber auch darum, „ihnen nicht | |
das Elternhaus madig zu machen, sondern beides zuzulassen“. | |
In ihrer Kinderdorffamilie leben zurzeit fünf Kinder. Vanessa, mit fünfzehn | |
Jahren die Älteste, Vilou und ein weiteres zwölfjähriges Mädchen, die | |
elfjährige Zoë und ein vierzehnjähriger Junge. Ein Platz ist derzeit frei. | |
Seit diesem Jahr gehören auch zwei minderjährige unbegleitete Flüchtlinge | |
dazu. „In der Regel nehmen wir Kinder auf, bis sie zwölf Jahre sind, weil | |
sie da auch noch bereit sind, sich auf so eine Familienkonstellation | |
einzulassen“, erklärt Müller. | |
## Die Kinder haben Aufgaben | |
Die staatlich anerkannte Erzieherin arbeitet seit elf Jahren als | |
Kinderdorfmutter. Sie wechselt sich im Kinderdorf mit zwei weiteren | |
Erzieherinnen ab. Mittags kocht eine Haushälterin. Die Kinder erledigen | |
täglich wechselnden Aufgaben im Haushalt wie Einkaufen, Spülmaschine | |
einräumen, Ausfegen, Müll runterbringen. Das jüngste Kind, das sie | |
aufgenommen habe, war sechs Jahre alt, erzählt Müller. | |
„Stefan, der jetzt achtzehn geworden und vor Kurzem ausgezogen ist, ist mit | |
sieben zu uns gekommen. Er ist wirklich hier groß geworden“, sagt sie. Bei | |
den beiden unbegleiteten Flüchtlingen könne bisher niemand abschätzen, wann | |
die Eltern nachkommen könnten. Die meisten Kinder, die sie in ihrer Familie | |
hatte, seien acht bis zehn Jahre geblieben. | |
Vanessa guckt noch mal zur Küchentür rein. „Mütze ist besser, oder?“, fr… | |
sie und wechselt kurz zwischen Haarreif und schwarzer Mütze, unter der nun | |
nur noch die blau gefärbten Haarsträhnen herausgucken. „Ja, so ist gut“, | |
bestätigt Vilou. Ein kurzes Tschüss, und die Tür fällt hinter Vanessa ins | |
Schloss. | |
Vilou braucht etwas länger, bis sie sich die Haare gekämmt und passende | |
Klamotten ausgewählt hat. Den Schal hat sie sich vorher von Vanessa | |
geliehen. Dann macht sie sich auf den Weg zu ihrem Cousin. Zoë räumt den | |
Tisch mit ab und läuft zwischendurch ans Fenster, um Ausschau nach dem Auto | |
ihres Vaters zu halten. | |
## Nicht weit zu den Eltern | |
Die meisten Kinder kommen tatsächlich aus Berlin und haben es meist auch | |
nicht weit bis zu den Eltern. Auch das ist eine Besonderheit des Berliner | |
Kinderdorfs, die Kinder sollten so ihren Freundeskreis behalten können, | |
weiter in dieselbe Kita oder Schule gehen, so dass sie nicht das gesamte | |
soziale Umfeld, sondern nur die Familie wechseln müssten. Der Kontakt zu | |
den Herkunftsfamilien solle nicht abbrechen, sondern stabilisiert und | |
verbessert werden. Eine Rückkehr sei allerdings eher „die Ausnahme“, | |
erklärt Müller. | |
Auch die Angebote des Familienzentrums gehören zum Alltag der Kinder und | |
Jugendlichen aus dem Kinderdorf. Sie nutzten das Sportangebot, die | |
Beratungsstelle oder das Café. Gemeinsame Feste feiern die | |
Kinderdorffamilien im Hinterhof, „der ist ein bisschen Ersatz für den | |
Dorfplatz in den klassischen Kinderdörfern“, sagt Müller. Und am Ende des | |
Schuljahrs machen die Kinderdorffamilien immer ein gemeinsames Picknick im | |
Park. | |
## Weihnachtsplanung | |
Gegen halb zwölf klingelt es, kurze Zeit später steht Zoës Vater in der | |
Tür, um sie abzuholen. Mit Christine Müller bespricht er kurz, welche Tage | |
Zoë in den Weihnachtsferien in der Kinderdorffamilie verbringen wird und | |
wie lange sie zu ihm kommen möchte, um die Verwandten zu treffen. Zoë zieht | |
ihre Jacke an und sucht ihre Sachen zusammen. Sie zeigt ihrem Vater die | |
neuen Handschuhe in Pink, die farblich gut zu ihrer Jacke passen, lässt sie | |
dann aber absichtlich liegen. Auch Handschuhe vertragen sich nicht mit | |
ihren künstlichen Nägeln. | |
Der Text ist Teil des Schwerpunktes zum SOS-Kinderdorf Moabit aus der | |
taz.Berlin-Printausgabe vom Wochenende 17./18.12.2016 | |
17 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Uta Schleiermacher | |
## TAGS | |
Jugendhilfe | |
Kinderschutz | |
Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Missbrauch | |
Berlin | |
Flüchtlinge | |
Die Linke Berlin | |
sexueller Missbrauch | |
Ehe für alle | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Machtmissbrauch: SOS im Kinderdorf | |
Auch in SOS-Kinderdörfern gab es Misshandlungen. Die Taten werden | |
aufgearbeitet – doch Betroffene fühlen sich allein gelassen. | |
Jugendnotdienst in Berlin: Viel Nacht, wenig Asyl | |
Ein Monat beim Jugendnotdienst in Berlin ist wie anderswo sechs, sagt ein | |
Sozialarbeiter. Viele von ihnen halten nur ein paar Jahre durch. | |
Nachrichtenplattform von Flüchtlingen: News auf Arabisch und Farsi | |
Auf „Amal, Berlin!“ veröffentlichen JournalistInnen, die selbst geflüchtet | |
sind, Nachrichten für Flüchtlinge. Es geht um Meldungen aus Berlin – und um | |
Teilhabe. | |
Berlins neue Sozialsenatorin: „Wir müssen Armut eingrenzen“ | |
Die Linke Elke Breitenbach ist seit Donnerstag Senatorin für Arbeit, | |
Soziales und Integration – und hat da einiges vor. | |
Sexuelle Gewalt an Kindern: Missbrauch noch immer alltäglich | |
In Vereinen, Heimen, Familien, in der Kirche: Sexuelle Gewalt an Kindern | |
gibt es überall. Prävention, sagen Experten, beginnt mit Aufarbeitung. | |
Hamburg will mehr schwule Pflege-Eltern: Regenbogen-Eltern gesucht | |
Die Familienbehörde Hamburg ermutigt schwul-lesbische Paare, sich als | |
Pflegeeltern zu bewerben. Die Böhmers sind seit drei Jahren dabei. |