| # taz.de -- Rundgang auf St. Pauli: Nur ein blasser Schimmer | |
| > Der Hamburger Kiez ist im Normalfall laut und klebrig, er blinkt und | |
| > stinkt. Nun hat der Coronavirus das Leben dort von den Straßen gefegt. | |
| Bild: Große Stille auf der Großen Freiheit | |
| Hamburg taz | Die Lichter mancher Bars, Stripclubs und Nachtlokale blinken | |
| noch müde, andere sind aus. Der Hamburger Kiez sieht dieser Tage aus wie | |
| die schmucklose Wandsbeker Chaussee an einem Dienstagabend: Man bekommt | |
| direkt Lust, nach Hause und ins Bett zu gehen. | |
| In Zeiten der Corona-Krise ist zu Hause bleiben natürlich richtig. Und die | |
| Hamburger*innen scheinen das auch zu beherzigen. Wer jetzt noch draußen | |
| ist, führt entweder seinen Hund aus, lebt auf der Straße oder ist Teil | |
| einer Polizeipatrouille, die sicherstellt, dass sich alle an die Regeln | |
| halten. Schon am Freitagnachmittag wurden Treffen von mehr als sechs | |
| Menschen verboten, nun darf man nur noch zu zweit unterwegs sein. | |
| Ein Streifenwagen wartet an der menschenleeren Kreuzung neben der | |
| Davidwache auf der Reeperbahn auf Grün. Die Polizisten können kaum glauben, | |
| dass die ganze Stadt tut, was sie soll: zu Hause bleiben. „Ich hab gedacht, | |
| wenn jemand eskaliert, dann doch hier“, sagt einer der beiden und schüttelt | |
| den Kopf. | |
| Auch die Stimmung auf dem Kiez ist von Vorsicht geprägt. Fußgänger gehen | |
| zügig, ein Radfahrer fährt in ausschwenkendem Slalom an zwei Personen | |
| vorbei, um die anderthalb Meter Sicherheitsabstand einzuhalten. | |
| Vor dem Hamburger Club „Docks“ steht eine Frau auf einem Steinpodest und | |
| tanzt trotzig ganz ohne Musik vor sich hin, ihre Freundin sitzt auf einer | |
| Bank daneben. Ein blasser Schimmer dessen, was hier an einem Freitagabend | |
| normalerweise los ist. | |
| Die Reeperbahn verteidigt ihren Ruf als berüchtigte Partymeile seit | |
| Jahrzehnten. Hans Albers, Udo Lindenberg und sogar Tom Waits haben sie | |
| besungen – diese Nostalgie klebt noch heute an ihr. Sie übt einen Sog aus. | |
| Auf Tourist*innen, die teilweise nur wegen dieser Straße nach Hamburg | |
| kommen, und auf viele Einheimische, die hier ihre Wochenenden verbringen. | |
| Nichts an diesem Ort ist im eigentlichen Sinne schön. Es ist laut, klebrig, | |
| blinkt und stinkt. Neben Bars, Clubs und fröhlichen Nachteulen gibt es auch | |
| übergriffige Männer, einen unübersehbaren Straßenstrich und immer wieder | |
| Menschen, die sich am Straßenrand übergeben. Über die Reeperbahn torkeln | |
| auch jetzt zwei Gestalten, die offenbar nicht wissen, wohin mit sich. | |
| „Komm“, sagt die Frau und fasst ihren Begleiter tröstend am Arm, „wir ge… | |
| in den Kiosk. Der hat auf.“ | |
| Tatsächlich sind Kioske und Take-away-Restaurants zurzeit die einzigen, die | |
| geöffnet haben dürfen. McDonalds hat seinen Sitzbereich mit rot-weißem | |
| Absperrband abgesichert, an der Tür hängen drei Zettel mit | |
| Corona-Verfügungen immer neueren Datums. Auch im „Emma Markt“ in der | |
| Davidstraße ist kaum Betrieb. „Wer hier wohnt, kauft natürlich weiter hier | |
| ein“, sagt der Verkäufer, „aber die Partygäste am Wochenende fehlen uns | |
| natürlich. Welcher Tag ist eigentlich heute?“ Er lacht vergnügt. Das | |
| Schnapsregal hinter ihm ist komplett aufgefüllt. | |
| Auf den Bürgersteig in einer Seitenstraße der Reeperbahn sind | |
| Kreidezeichnungen gemalt: Ein Mensch, ein Haus, ein Auto und ein paar | |
| riesige Kugeln mit Fühlern und Stacheln schweben dazwischen durch die Luft | |
| – ganz klar Coronaviren. | |
| Nur wenige Meter Luftlinie von den Kreidezeichnungen entfernt befindet sich | |
| die wohl berüchtigste Straße auf dem Kiez: Die Herbertstraße, eine hinter | |
| Sichtblenden versteckte Gasse, in der Prostituierte normalerweise in | |
| Schaufenstern sitzen und andere Frauen nicht erwünscht sind. | |
| Nun huschen zwei Fußgängerinnen, die die Gunst der Stunde offenbar genutzt | |
| haben, aus dem verborgenen Bereich hervor. In der Gasse selbst ist niemand | |
| mehr. Wenn man von den Rotlichtlampen und einigen mit Bikinimodels | |
| beklebten Hauseingängen absieht, könnte die Gasse als Bühnenbild für die | |
| Augsburger Puppenkiste dienen mit ihrem Kopfsteinpflaster und den | |
| zwergenhaften Reihenhäusern. Prostitution ist aufgrund der | |
| Ansteckungsgefahr inzwischen verboten, Sexarbeit findet, wenn überhaupt, im | |
| Geheimen statt. | |
| Zurück auf der Hauptstraße sind neben den nach wie vor vielen | |
| Polizeistreifen nur noch wenige Menschen unterwegs. Die scheinen auf der | |
| Straße zu leben, ohne Rückzugsort von der Ansteckungsgefahr. Einer von | |
| ihnen ist Günni. Er hat freundliche Augen, einen Bart und ist für die | |
| Jahreszeit viel zu dünn angezogen. Er spüre eine Veränderung auf den | |
| Straßen: „Die Leute haben Angst“, sagt er. Er selbst habe draußen mehr | |
| Ruhe. „Aber wenn weniger Menschen unterwegs sind, kann ich mir natürlich | |
| auch weniger schnorren“, sagt er. „Das Virus ist meine geringste Sorge.“ | |
| 24 Mar 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Sarah Mahlberg | |
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