# taz.de -- Roman über das Westberlin der 80er: „Ein Jahrzehnt des Umbruchs�… | |
> Misha Schoenebergs neuer Roman erzählt vom Lebensgefühl der 80er Jahre. | |
> Symbolbild für diese Zeit sind Rio Reiser und seine Band Ton Steine | |
> Scherben. | |
Bild: Vorm Reichstag, 1984: Rio Reiser singt. Sein Todestag jährt sich dieses … | |
taz: Herr Schoeneberg, Sie haben schon verschiedene Bücher vom Krimi bis zu | |
Reiseromanen geschrieben. Wie kam es nun zu diesem Rock-’n’-Roll-Märchen? | |
Misha Schoeneberg: Ich wollte bereits im Jahr 1981, als ich als | |
Tourneebegleitung zu Ton Steine Scherben kam, ein Buch über Tour-Anekdoten | |
schreiben. Doch wenn man unterwegs ist, erlebt man zwar viele Geschichten, | |
kommt aber nicht dazu, sie aufzuschreiben. | |
Trotz wahrer Begebenheiten geben Sie Rio Reiser und sich selbst fiktive | |
Namen. Warum? | |
Der Freund des Ich-Erzählers heißt in der Geschichte Till Traven, weil es | |
anders unmöglich war, zu einer öffentlichen Person wie Rio Reiser, über den | |
schon so viel geschrieben wurde und den ein jeder zu kennen glaubt, eine | |
intime Nähe zu wahren. Der Name ist eine Anlehnung an den deutschen Autor | |
B. Traven, der ja auch immer ein Rätsel blieb ([1][B. Traven setzte | |
zeitlebens alles daran, seine Identität anonym zu halten] – Anm. d. Red). | |
Ohnehin ist der Roman keine Rio-Bio, auch stehen nicht Ton Steine Scherben | |
im Mittelpunkt des „Wunders“. | |
Was dann? | |
Berlin. Genauer: Es geht um das Jahrzehnt der 80er Jahre in der | |
untergegangenen Insel Westberlin. Es ist ein atemloser Ritt durch die | |
Dekade voll Poesie, Politik, Liebe, Sex, Tod, Rausch, Drogen und vor allem | |
eins: Musik! Es beginnt mit dem Neujahrstag 1980 auf dem Kreuzberg und | |
endet am Brandenburger Tor Silvester 1989. Auch werden die politischen und | |
historischen Ereignisse benannt, die unmittelbar das Lebensgefühl jener | |
Tage prägten, sei es der Nato-Doppelbeschluss, die Pershing-II-Raketen oder | |
der sich ankündigende Zusammenbruch der DDR. | |
Dennoch wählten Sie leicht zu dekodierende Protagonisten. | |
Ja, das ist nicht zu leugnen. Ich wollte kein Geschichtsbuch, sondern | |
lieber etwas leicht zu Lesendes schreiben. Das ist auch eine große | |
Ambition. Da es auch in der Geschichtsschreibung niemals wirkliche | |
Objektivität gibt, erzähle ich bewusst ganz subjektiv aus der Sicht des | |
Ich-Erzählers Joshua, der diese Zeit staunend erlebte. | |
Wie nahe ist der Roman dann an der Realität? | |
„Du musst ihnen Märchen erzählen, sonst gloobt dir keener!“, gab mir einst | |
Wolfgang Neuss mit auf dem Weg. So bezieht sich jede Szene auf eine wahre | |
Begebenheit. Auch habe ich versucht, die Sprache der Protagonisten | |
entsprechend wiederzugeben. Diejenigen, die das Buch schon gelesen haben | |
und betreffende Personen kannten, sagen, das sei mir gelungen. | |
Welche Rolle spielt Rio Reiser für den Roman? | |
Die Geschichte von Ton Steine Scherben wird immer mit den 70er Jahren | |
verbunden. Die 80er wurden bisher so gut wie nicht erzählt. Es ist das | |
Jahrzehnt des Umbruchs, im Großen wie im Kleinen. Es war das Ende des | |
Kommunetraums. Rio startete eine Solokarriere. Insofern ist er auch eine | |
Metapher für jenes Jahrzehnt. | |
Inwiefern? | |
Nun, der Unterschied des Rocksongs zum Schlager – so heißt es – sei seine | |
Wahrhaftigkeit. Der Rocksänger wird an seinen Worten gemessen und man nimmt | |
es ihm schnell übel, wenn sie nicht mit den Taten übereinstimmen. Das war | |
eine Bürde, die Rio nicht nur erkannt hatte, sondern unter der er auch | |
litt. Alkohol spielte dabei auch eine unglückliche Rolle. | |
Auf der Bühne hat man ihm das nicht angemerkt. | |
Ja, die Bühne war seine Zuflucht, da war er phänomenal. Backstage war er | |
aber ein anderer. Die Diskrepanz zwischen der großen Hoffnung, die er | |
besang, und der Wirklichkeit, die immer grauer wurde, zerriss ihn manchmal | |
förmlich. In vielen Diskussionen habe ich ihm Mut zugesprochen, sich auch | |
schwach zu zeigen, denn darin liegt wahre Größe. So ist der Blick des | |
Ich-Erzählers in dem Buch auch immer der Blick auf einen großen, doch in | |
sich zerrissenen Künstler. | |
Das klingt, als würden Sie durch den Roman mit den Erlebnissen dieser Zeit | |
abschließen. | |
Es ist die Einlösung eines alten Versprechens. Das galt aber nicht Rio, | |
sondern Huckleberry Finn, der im Buch zu entdecken ist. Es ist zwar kein | |
Liebesroman, so geht es doch um die Liebe in ihren vielen Facetten. Und ist | |
Liebe auch zeitlos, so ist das „Wunder“ zumindest der Versuch, die Zeit mit | |
Rio, der trotz aller seiner Widersprüche ein unglaublich liebevoller Mensch | |
war, in Würde und mit Hoffnung abzuschließen. | |
26 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Jacqueline Dinser | |
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