Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Rio Reisers Todestag: Land in Sicht
> Am 20. August vor 25 Jahren ist Rio Reiser gestorben. Er war ein genialer
> Autor. Versuch einer Songanalyse.
Bild: Rio Reiser 1987, bei einem Konzert in Offenbach
Also, der Versuch einer Gedichtanalyse wie fürs germanistische
Grundseminar. Der Titel des Songs, den man auch als vertontes Gedicht
bezeichnet, lautet „Land in Sicht“, wurde 1971 von Ralph Möbius, besser
bekannt als Rio Reiser, und R.P.S. Lanrue getextet und komponiert und
erschien 1975 auf dem dritten Album ihrer Band Ton Steine Scherben „Wenn
die Nacht am tieftsten …“.
Thema des Songs ist die heilende Kraft der Natur. Er entstand in dem Jahr,
als nach einem Konzert von [1][Ton Steine Scherben] in Berlin das legendäre
Rauch-Haus besetzt wurde – und somit eine neue Kampfform geschaffen wurde,
um Freiräume in einer immer enger werdenden Welt zu erobern.
Allerdings wurde der Song von Kritiker*innen in der linken Szene als
unpolitischer Ausdruck der Flucht der Band aus Kreuzberg ins nordfriesische
Friesenhagen interpretiert, wo die Band billig einen heruntergekommenen
Bauernhof erstanden hatte.
Tatsächlich wollte Rio Reiser schon vor seiner Landflucht mit dem Song ein
neues Kapitel in der Geschichte der Band aufschlagen, die bisher als die
[2][Erfinder Kreuzbergs] gehandelt wurden, als gefürchtetste Band der
Republik, als Auftragsschreiber für die RAF, als Lehrlingsagitrocker für
Jungproleten. Er konnte, wie er später sagte, die Plena und Manifeste, die
„triste linke Kleiderordnung“ und nicht zuletzt die ewige Geldnot in den
dunklen Hinterhöfen der Frontstadt nicht mehr ertragen.
## Biblische Ideen
Der Song beschreibt ein lyrisches Ich, das eines Morgens irgendwo auf dem
Land aufwacht und plötzlich angesichts von Wald, Strand und viel Himmel das
Gefühl hat, dort angekommen zu sein, wo es hingehört („die lange Reise ist
vorbei“). In Anlehnung an biblische Vorstellungen beschreibt der gläubige
Christ und fleißige Bibelleser Reiser, wie die Natur (Sonne, Wind und
Regen) den Weinenden, Verzweifelten und Durstigen Trost spenden, wie sie
sogar Tote auferstehen lassen kann. Rio Reiser hat mit „Land in Sicht“ ein
Lied der Sehnsucht und der Hoffnung geschrieben.
Die erste Strophe des Songs beinhaltet die Beschreibung der erwähnten
Glücksgefühle des lyrischen Ichs. Bereits bei der zweiten Strophe, also für
einen Rocksong ungewöhnlich früh, handelt es sich um den Refrain, der die
Wirkung der Landschaft und der Natur auf den Menschen beschreibt. Es folgt
eine Strophe, die wieder zum lyrischen Ich zurückkehrt, das diesmal Wald,
Strand und Himmel lobt.
Der Song ist im halben Kreuzreim geschrieben, der wie eine Wellenbewegung
wirkt und das emotionale Auf und Ab zwischen Melancholie und Zuversicht zum
Ausdruck bringt. Häufiges Metrum ist der in Rocksongs selten vorkommende
Anapäst, ein Versfuß, der in der Antike in Marschliedern Anwendung fand und
eine vorwärtsdrängende Stimmung vermittelt. Passend dazu endet jede Zeile
mit einer männlichen Kadenz, Entschlossenheit transportierend.
## Zeitenwende
Sprachlich ungewöhnlich ist die erste Zeile mit der Wortschöpfung „ins Herz
singen“, ansonsten besticht der Song wie viele, die Rio Reiser geschrieben
hat, durch sprachliche Einfachheit, die oft als naiv beschrieben wird. Und
doch liegt unter dieser Einfachheit eine große Komplexität, die der
charismatische Rio Reiser wie kaum ein anderer Sänger in Deutschland zum
Ausdruck bringen konnte.
Denn der Song markiert nicht nur Reisers Wunsch, mehr als nur als ein
Sprachrohr einer Bewegung wahrgenommen zu werden, er markiert auch eine
Zeitenwende.
Als sich Rio Reiser mit seiner Band Ton Stein Scherben nach Friesland
zurückzog, war in Berlin der antiautoritäre Aufbruch, für den auch Ton
Stein Scherben standen, längst ins Dogmatische, ins Orthodoxe gekippt.
Viele seiner ehemaligen Fans boykottierten die Band von nun an schmallippig
als zu unpolitisch.
Am 20. August vor 25 Jahren ist der begnadete Autor und Rockstar Rio Reiser
im Alter von 46 Jahren gestorben.
20 Aug 2021
## LINKS
[1] /Jubilaeumsfeiern-fuer-Ton-Steine-Scherben/!5772003
[2] /Roman-ueber-das-Westberlin-der-80er/!5771352
## AUTOREN
Susanne Messmer
## TAGS
Rio Reiser
Ton Steine Scherben
Kreuzberg
Schwerpunkt Stadtland
Ton Steine Scherben
Rio Reiser
Popmusik
## ARTIKEL ZUM THEMA
Der Krieg und die Kinder: Die Welt leuchtet gelb und blau
Letzte Woche hat die Autorin bei blau und gelb noch an Elche und
Zimtschnecken gedacht. Nun demonstriert in ihrem Kopf selbst Ikea gegen
Putin.
Jubiläumsfeiern für Ton Steine Scherben: Liebe, Tod und Umbenennung
Berlin gedenkt der Agitrocker Ton Steine Scherben und des Frontmanns Rio
Reiser. Zum 50. Jubiläum gibt es in der Hauptstadt Ausstellungen und
Konzerte.
Roman über das Westberlin der 80er: „Ein Jahrzehnt des Umbruchs“
Misha Schoenebergs neuer Roman erzählt vom Lebensgefühl der 80er Jahre.
Symbolbild für diese Zeit sind Rio Reiser und seine Band Ton Steine
Scherben.
Interview mit Judith Holofernes: "Ich muss aus der Hüfte schießen"
Judith Holofernes ist keine Heldin mehr, sondern Solokünstlerin. In Kürze
erscheint ihr Album "Ein leichtes Schwert". Ein Gespräch über den Abschied
von der Band, Kreuzberg und Rio Reiser.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.