# taz.de -- Ein Preis im Namen von Rio Reiser: Ist das noch Boheme? | |
> Präzise Chronistin der Berliner Lässigkeit, die schon vor Corona ins | |
> Prekäre kippelte: Christiane Rösinger erhält das Rio Reiser | |
> Sonderstipendium. | |
Bild: Kann von ziemlich allem ein Lied singen: Christiane Rösinger | |
Angesichts der Verwerfungen, die die Coronakrise insbesonders auch für den | |
freien Kulturbetrieb bedeutet, und gemessen an den Millionensummen, die | |
gerade für Sofortmaßnahmen bereitgestellt wurden und werden, klingt der | |
Betrag dann doch nicht sonderlich hoch. Mit knapp 300.000 Euro also | |
unterstützt das Musicboard Berlin in diesem Jahr MusikerInnen und Bands aus | |
dem popkulturellen Bereich, die in Berlin leben und hier ihren | |
Schaffensmittelpunkt haben. | |
Andererseits aber hat sich die aktuelle Krise eben vollkommen unerwartet | |
reingegrätscht in diese jährliche Vergabe. Und da sind 300.000 Euro im | |
freien Kulturbetrieb doch wieder ein ganz schön großer Tropfen. Sogar ein | |
etwas größerer als bis dato, wie vom Musicboard vergangene Woche mitgeteilt | |
wurde: „In Anbetracht der existenziellen Herausforderungen, vor denen | |
Kulturschaffende derzeit durch Covid-19 stehen, freut es uns ganz | |
besonders, dass wir damit in diesem Jahr mehr Mittel als sonst vergeben | |
können.“ | |
Bereits im achten Jahr in Folge vergibt das Musicboard Berlin diese | |
Stipendien und Residenzen, erstmals aber wurde außerdem das Rio Reiser | |
Sonderstipendium „für politisch engagierte und aktivistische Berliner | |
Musiker*innen“ vergeben. Dotiert ist das Sonderstipendium mit 8.000 Euro. | |
Geld, das an die Premierenpreisträgerin Christiane Rösinger geht. | |
Die Musikerin und Autorin freut sich darüber gleich aus mehreren Gründen. | |
Klar, da ist das Geld, gerade jetzt. Dazu aber komme auch die ideelle | |
Perspektive, wie sie sagt: „Ich habe noch nie irgendeinen Preis bekommen | |
oder was gewonnen.“ Und dass nun ihr erster Preis gleich mit dem Namen Rio | |
Reiser verknüpft ist, ist schon eine besondere Auszeichnung für Rösinger, | |
die doch mehr war als nur ein Fan des Ton-Steine-Scherben-Sängers – „Ich | |
habe Rio sehr verehrt.“ | |
Was sie mit ihm verbindet? „So vieles, das geht so weit zurück. Anfang der | |
Achtziger in einem kleinen Dorf im Badischen, in der Mehrzweckhalle | |
Muggensturm beim Ton-Steine-Scherben-Konzert. Dieser Schlüsselmoment, den | |
wahrscheinlich sehr viele Jugendliche bei den Scherben-Konzerten hatten: | |
Die plötzliche Erkenntnis: Du musst hier raus, dein Leben ändern. Nach | |
Berlin ziehen, eine Band gründen.“ | |
## Die schnoddrige Berliner Außenstelle | |
Was Christiane Rösinger dann ja getan hat. Mit Almut Klotz und Funny van | |
Dannen gründete sie 1988 die Lassie Singers, die mit ihren | |
beschwingt-bissigen Liedern so was wie die schnoddrige Berliner Außenstelle | |
der damals den deutschen Musikdiskurs prägenden Hamburger Schule waren. | |
Danach machte sie mit etwas melancholischer gestimmten Liedern mit der Band | |
Britta und auch solo weiter, sie hat dies und das und mit dem Buch „Das | |
schöne Leben“ einen autobiografischen Roman geschrieben. Als gelegentliche | |
taz-Autorin hat sie zum Beispiel in einer Kolumne [1][von ihrer Fahrt nach | |
Baku] berichtet. Das war im Jahr 2012, als in der aserbaidschanischen | |
Hauptstadt der Eurovision Song Contest stattfand. Lieder locken Christiane | |
Rösinger einfach. Und aktuell hat sie im HAU mit „Stadt unter Einfluss“ ihr | |
erstes Musical auf die Bühne gebracht. Ein wohnungspolitisches Musical. | |
[2][Premiere hatte es vergangenen Herbst.] | |
Dieses Umtun in den verschiedenen Bereichen ist dabei Vielstimmigkeit | |
genauso wie schiere Notwendigkeit, von irgendwoher muss das Geld | |
schließlich kommen. Die Liederschreiberin Rösinger – präzise Chronistin | |
einer Berliner Lässigkeit – hat auch daraus ein wunderbares Lied gemacht: | |
„Ich zähle täglich meine Sorgen / Dabei denk ich noch nicht einmal an | |
morgen / Ich hab ja keine Angst, nur manchmal frag ich mich: / Ist das noch | |
Boheme oder schon die Unterschicht?“ So singt sich das in dem Britta-Song | |
„Wer wird Millionär?“. | |
Grund für Sorgen gibt es für sie derzeit genug. Ihr „Brotjob“ als Dozentin | |
für Deutsch für Geflüchtete ist gerade ausgesetzt. Die Volkshochschulen | |
sind geschlossen. „Ob Ausfallhonorare gezahlt werden, ist noch nicht klar.“ | |
Und eigentlich sind April und Mai die wichtigsten Konzertmonate. Im April | |
sollte sie mit Stefanie Sargnagel und Denice Bourbon mit „Legends of | |
Entertainment“ unterwegs sein, im HAU sollte ihr Musical wiederaufgeführt | |
werden: „Aus alldem wird nichts. Vielleicht kann die Wiederaufnahme auf den | |
Herbst verschoben werden. Das wären die Einnahmen für das ganze Jahr | |
gewesen.“ | |
Aber das Geld ist eben nicht die ganze Wahrheit: „Alles fällt weg. Die | |
Konzerte und das Musical wären auch soziale Highlights gewesen“, sagt | |
Rösinger, die ja als Betreiberin der Flittchenbar im Südblock sonst die | |
Leute zum Ausgehen und Rumstehen auffordert. „Jetzt hocke ich wie alle | |
anderen in der Wohnung und hab erst mal nichts, auf was ich mich freuen | |
könnte. Ich hoffe nur, dass es im Herbst weitergeht, dass die Leute dann | |
wieder zu Konzerten und ins Theater gehen.“ | |
2 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Mauch | |
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