| # taz.de -- Roman „Haus von Anita“ von Boris Lurie: Wenn das Trauma erzählt | |
| > Der Roman „Haus von Anita“ ist verstörend. Der Autor Boris Lurie brachte | |
| > darin die industrielle Vernichtung im Holocaust mit Pornografie zusammen. | |
| Bild: Auseinandersetzung mit dem Holocaust: Boris Lurie in seinem Atelier in Ne… | |
| Eine bis heute verstörende Collage ist auf dem Buchcover zu sehen: Das | |
| Hintergrundbild zeigt Leichenberge auf der Ladefläche eines Waggons, man | |
| sieht Beine, Füße und Köpfe herausragen – eine Fotografie aus einem KZ. | |
| Darübergeklebt ist das Foto eines Pin-up-Girls, das man von hinten sieht; | |
| die Frau trägt Strapse und zieht den Slip herunter, sodass ihr nackter | |
| Hintern zu sehen ist – ein Ausschnitt aus einem Erotikheft. | |
| Diese Arbeit, [1][„Railroad collage“ (1963),] ist eines der berühmtesten | |
| Werke des Künstlers Boris Lurie, der 1924 im damaligen Leningrad als Sohn | |
| einer jüdischen Familie geboren wurde und 2008 in seiner langjährigen | |
| Heimat New York starb; sie ist nun auch auf dem Titel seines Romans „Haus | |
| von Anita“ abgebildet. „Haus von Anita“ ist auf Englisch im Jahr 2016 | |
| erschienen und liegt jetzt auf Deutsch vor. Es ist der einzige Roman von | |
| Lurie, dem wohl bekanntesten Vertreter der US-amerikanischen NO!Art. Von | |
| Mitte der Siebziger bis zu seinem Tod hat er daran gearbeitet und ihn als | |
| Fragment hinterlassen. | |
| Das, was Boris Lurie in der bildenden Kunst oft gemacht hat – die | |
| Massenvernichtung und erotische/pornografische Bilder | |
| nebeneinanderzustellen –, macht er hier in Prosaform. Das titelgebende | |
| „Haus von Anita“ ist ein New Yorker Etablissement, in dem sich drei Dominas | |
| drei Lustsklaven und einen Kapo halten. Die Sklaven, darunter der | |
| Ich-Erzähler, liegen in Sarkophagen und werden nur zur Nutzung ihrer | |
| „Werkzeuge“ zwischen den Beinen herausgeholt. Sie werden gedemütigt, | |
| gequält, gefoltert und „gemolken“. | |
| So abstoßend wie das Bild auf dem Cover, so abstoßend in weiten Teilen der | |
| Inhalt dieses Romans. Während eine Herrin in den Mund des Erzählers | |
| fäkaliert, sagt sie „Schwanz-Jude-friß-friß-friß“. Das „Haus von Anit… | |
| wird im Roman als Analogie zu einem KZ verwendet. Erst gegen Ende, nachdem | |
| Herrin Anita gestorben ist und die (Traum-)Handlung in Israel, Albanien und | |
| schließlich im postapokalyptischen New York spielt, wird die Lektüre | |
| erträglicher. | |
| ## Tätowierungen aus dem KZ | |
| Grundsätzlich stellt Lurie den Holocaust auch hier in einen pornografischen | |
| Kontext, was dem Künstler Vorwürfe einbrachte, den Opfern die Würde zu | |
| nehmen und die Massenvernichtung zu verharmlosen (u. a. von Elie Wiesel). | |
| Klar ist, dass Lurie einen (sexuellen) Lustgewinn, den die Täter aus dem | |
| Foltern und Morden zogen, möglichst drastisch darstellen wollte, | |
| vergleichbar mit Pier Paolo Pasolini in seiner Verfilmung [2][„Die 120 Tage | |
| von Sodom“] (1975). Um die ausgebliebene Zäsur nach der industriellen | |
| Massenvernichtung im Land der Täter, Deutschland, aber auch generell im | |
| Westen zu verdeutlichen, nutzte Lurie bewusst die Produkte der immer | |
| freizügigeren Massen- und Konsumkultur und stellte sie Dokumenten aus dem | |
| Holocaust gegenüber. | |
| Das Romangeschehen in „Haus von Anita“ ist eine Auseinandersetzung mit dem | |
| persönlichen Trauma Luries und der Katastrophe des Holocaust zugleich. | |
| Lurie hat selbst mehrere KZs, darunter Stutthof und Buchenwald, überlebt. | |
| Zuvor lebte er im Ghetto in Riga, bei den Massenermordungen der SS im Wald | |
| von Rumbula im Dezember 1941 starben seine Mutter Shaina, seine Schwester | |
| Josephina, die Großmutter mütterlicherseits und seine Jugendliebe Ljuba | |
| Treskunova. | |
| In einer Passage des Romans nennt der Ich-Erzähler diese; der Teil ist in | |
| zärtlich-liebevollem Duktus geschrieben, anders als die meisten Passagen: | |
| „Wir stehen am Bug unseres Boots und beobachten aufgeregt all die | |
| Zirkusspektakel, welche die Natur unseren Sinnen vorführt. Ich halte meine | |
| Schönheit, meine sechzehnjährige Ljuba, um die Taille und die üppigen | |
| Hüften gefaßt. (…) Wolken der Traurigkeit und des Mitgefühls erheben sich | |
| aus dem Meer ihrer haselnuß-smaragdfarbenen intransparenten Augen. Deren | |
| Blick einst die Unendlichkeit durchbohrt hat. Wieder erscheinen diese Augen | |
| aus dem Massengrab von Rumbula.“ | |
| An anderer Stelle betrachtet der Erzähler die Tätowierung aus dem KZ | |
| („Ziffern, Buchstaben und Zeichen, eintätowiert oder unauslöschlich | |
| aufgestempelt, jetzt verwaschen. Müssen übliche alte | |
| Dienstidentifizierungscodes irgendwelcher Institutionen sein. Warum sind es | |
| so viele?“), und bei Herrin Anita hängen im Dienstbüro Bilder von Erwin | |
| Rommel und Joseph Goebbels. Als Fetisch sammelt sie „Ein Knäuel | |
| Auschwitzhaar in der Originalschachtel“. | |
| Die völlige Entmenschlichung menschlicher Körper und Seelen zieht sich | |
| durch das gesamte Buch. In einem Dokumentarfilm („Shoah und Pin-ups. Der | |
| NO!-Artist Boris Lurie“) hat Lurie einmal gesagt, die Erinnerungen an den | |
| Holocaust seien ihm wie ein „schlimmer Traum“ vorgekommen, er habe sich | |
| zunächst gar nicht für die Einzelheiten interessiert. „Später ist das alles | |
| zurückgekommen.“ | |
| ## NO!-Art Bewegung und Holocaust | |
| Die NO!-Art-Bewegung, die sich Ende der 1950er Jahre in New York gründete, | |
| hat sich bewusst gegen die Pop Art gewendet und sich in vielen Werken mit | |
| dem Holocaust auseinandergesetzt. Luries Collagen zur Massenvernichtung | |
| waren zum einen von Dada inspiriert, wiesen aber auch auf eine Ästhetik | |
| voraus, die der Punk später aufgreifen sollte: Bands wie die Dead Kennedys, | |
| The Pop Group oder Discharge haben später ähnliche Techniken in Bild und | |
| Text verwendet. | |
| Lurie hat zunächst in Gemälden und Illustrationen zum Thema Holocaust | |
| gearbeitet (zum Beispiel in einem Porträt seiner Mutter vor ihrer | |
| Erschießung), hat aber mit den Collagen und Cut-ups erst zu der Technik | |
| gefunden, die er für geeigneter hielt, das industrielle Morden abzubilden. | |
| Es ist verdienstvoll, dass „Haus von Anita“ (übersetzt und kommentiert von | |
| Joachim Kalka) nun auch in deutscher Sprache vorliegt. Denn wenn man dieses | |
| Buch genau liest, wird deutlich, dass Provokation hier kein Selbstzweck ist | |
| und dass es irrig ist, Lurie auf Schockeffekte zu reduzieren. Hier | |
| arbeitet sich ein Autor an der Unmöglichkeit ab, von physischer und | |
| psychischer Vernichtung, vom Genozid zu erzählen; einer, der die völlige | |
| Entmenschlichung des menschlichen Körpers am eigenen Leib erfuhr. | |
| ## Jahrhundert der Lager | |
| Wie schwer es ist, eine Sprache zu finden, die dem Lager gerecht wird, hat | |
| auch Primo Levi bemerkt. In „Ist das ein Mensch?“ schrieb er:„Da merken w… | |
| zum ersten Mal, dass unsere Sprache keine Worte hat, diese Schmach zu | |
| äußern, das Vernichten eines Menschen“. In einem solchen Kontext ist Lurie | |
| einzuordnen. Eine Ästhetik wie seine hilft auch heute noch das „Jahrhundert | |
| der Lager“ (Zygmunt Bauman) zu begreifen. | |
| Und man muss sich eben auch vor Augen führen, auf welche gesellschaftliche | |
| Realität diese Kunst, die „erlitten und nicht genossen werden will“, wie es | |
| der Verlag richtig schreibt, damals prallte – in den Sechzigern, als | |
| NO!-Art bekannt wurde, war im Land der Täter Kurt Georg Kiesinger Kanzler, | |
| die Kontinuitäten zur NS-Zeit fanden sich in allen Institutionen. | |
| Überdies hat Lurie es bei den Massentötungen in Riga selbst erlebt, dass | |
| ein lettischer Polizist, der nackte Frauen in den Tod führte, Gefallen | |
| daran gefunden hat, sie zu fotografieren. Und noch heute, wenn man etwa | |
| Bilder von „Querdenkern“ sieht, die sich bei Demonstrationen gelbe Sterne | |
| anheften, kann einem der Gedanke kommen: Pervers ist die gesellschaftliche | |
| Realität, nicht aber die Kunst, die sich mit ihr auseinandersetzt. | |
| 16 May 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
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