# taz.de -- Rolle der Türkei im Ukrainekrieg: Moralische Reinigung | |
> Der türkische Neutralitätskurs kommt im Westen nicht gut an. Doch | |
> Präsident Erdogan bleibt keine Wahl. EU und Nato haben im Umgang mit ihm | |
> Fehler gemacht. | |
Bild: Erdogan und Putin in Samarkand | |
Seit dem Einmarsch Putins in der Ukraine hat für die Welt ein neues | |
Zeitalter begonnen. Das Interregnum seit dem Zerfall des damaligen | |
Ostblocks scheint beendet. Eine Phase der Weltoffenheit, nicht nur im Sinne | |
der ökonomischen Globalisierung, sondern auch im Sinne offenerer Grenzen | |
für die Menschen, geht wohl zu Ende. Stattdessen droht eine neue | |
Blockbildung, mit dem asiatischen Zentrum um China und Russland auf der | |
einen Seite und dem transatlantischen Tandem USA und Europa auf der anderen | |
Seite. | |
Obwohl offiziell noch vor einer neuen Teilung der Welt gewarnt wird, wird | |
auf beiden Seiten bereits um Verbündete geworben und Gefolgschaft | |
angemahnt. Wie in Zeiten des Kalten Krieges schwärmen Emissäre aus, um in | |
Afrika und anderen Teilen der südlichen Hemisphäre Anhänger zu gewinnen. Es | |
gibt in dieser Phase der globalen tektonischen Verschiebung, die weit über | |
die Ukraine hinausgeht, große Länder, die sich der Blockbildung nicht | |
anschließen wollen, so etwa Indien oder Südafrika, und Länder, die bei der | |
neuen Blockbildung zwischen die Fronten zu geraten drohen. Das | |
Paradebeispiel dafür ist die Türkei. | |
Nachdem der türkische Präsident Erdoğan als Beobachter an dem Treffen der | |
Schanghai-Gruppe Mitte September in [1][Samarkand] in Usbekistan | |
teilgenommen hatte, wurde er im Westen heftig dafür kritisiert. Angeblich, | |
weil er bei einer Pressekonferenz auf hartnäckiges Nachfragen nicht | |
ausschließen wollte, dass die Türkei irgendwann in der Zukunft Mitglied in | |
diesem Zusammenschluss überwiegend asiatischer Diktaturen werden könnte, | |
tatsächlich aber wohl, weil ihm insbesondere die Bellizisten im Westen | |
schon länger seine Vermittlungsbemühungen zwischen Russland und der Ukraine | |
übelnehmen. | |
Außenministerin Baerbock hatte sich schon früher darüber mokiert, dass | |
Erdoğan [2][sich mit Putin und dem iranischen Präsidenten Raisi getroffen] | |
hatte. Der grüne Außenpolitiker Jürgen Trittin fordert, man solle die | |
Türkei, da man sie ja nicht aus der Nato hinauswerfen könne, wenigstens mit | |
wirtschaftlichen Sanktionen bestrafen. Das kommt vor allem bei denen gut | |
an, die sich nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine zähneknirschend mit | |
der Nato anfreunden mussten und jetzt wenigstens die Organisation von | |
Autokraten wie Erdoğan säubern wollen. Als Akt der moralischen Reinigung | |
sozusagen. | |
Wer jedoch nun mangelnde Solidarität der Türkei mit dem Westen beklagt, | |
sollte sich redlicherweise einmal die Vorgeschichte vergegenwärtigen. Noch | |
vor zwanzig Jahren war die Türkei ein Land, das sehnsüchtig auf eine | |
Mitgliedschaft in der EU hoffte und außerdem fest in der Nato verankert | |
war. Kurz nachdem die EU 2005 die Beitrittsverhandlungen aufgenommen hatte, | |
kam es in Deutschland zum Regierungswechsel von Gerhard Schröder zu Angela | |
Merkel und in Frankreich von Jacques Chirac zu Nicolas Sarkozy. Damit waren | |
die Beitrittsverhandlungen de facto beendet, völlig unabhängig davon, ob | |
die Türkei die Kriterien erfüllt hatte oder nicht. | |
Seitdem liegt der Beitrittsprozess auf Eis, und die Türkei ist aus Sicht | |
vieler EU-Mitglieder zum Paria geworden. Seit einigen Monaten erhalten | |
türkische Bürger kaum noch Schengen-Visa, selbst wenn sie familiäre | |
Bindungen in der EU haben. Ohne den Schutzschirm der EU wäre die Türkei | |
aber wirtschaftlich kollabiert, wenn sie sich den Sanktionen gegen Russland | |
angeschlossen hätte. Nicht ohne Grund unterstützt deshalb der ganz | |
überwiegende Teil der Bevölkerung Erdoğans Neutralitätskurs. | |
Ähnlich wie mit der EU erging es der Türkei mit der Nato. Seitdem es 2003 | |
das türkische Parlament – damals noch völlig demokratisch und übrigens | |
gegen den Willen des gerade neu gewählten Ministerpräsidenten Erdoğan – | |
ablehnte, dass die US-Armee zum Auftakt von George W. Bushs Angriffskrieg | |
gegen den Irak über türkisches Territorium in den Nordirak einmarschiert, | |
ist die Türkei für große Teile des amerikanischen Establishments | |
parteiübergreifend kein zuverlässiger Nato-Partner mehr. | |
## Keine „Patriots“ für die Türkei | |
Das hat das Land vor allem bei amerikanischen Waffenlieferungen zu spüren | |
bekommen. Unter Bushs Nachfolger Barack Obama verweigerte der US-Kongress | |
den Verkauf des Raketenabwehrsystems Patriot an die Türkei. Als Erdoğan | |
dann nach langem Hin und Her von Putin das Raketenabwehrsystem S-400 | |
kaufte, flog die Türkei aus dem Konsortium zum Bau des modernen Jagdbombers | |
F-35 heraus; ihre Bestellungen des Fliegers wurden storniert. | |
Und vor wenigen Wochen hat der Kongress beschlossen, dass die Türkei auch | |
die zur Modernisierung der veralteten F-16-Kampfflieger nötigen Module nur | |
erhält, wenn sie förmlich erklärt, die Flugzeuge niemals im zwischen der | |
Türkei und Griechenland umstrittenen Luftraum einzusetzen. Was passiert, | |
wenn Erdoğan jetzt russische MiG-29-Kampfflugzeuge kauft, die Putin ihm | |
förmlich aufdrängt? | |
Erdoğan hat zuletzt immer wieder erklärt, er sehe sich und die Türkei in | |
der Rolle eines Vermittlers. Aktuell zwischen der Ukraine und Russland – | |
[3][der Erfolg beim Getreidedeal] und [4][dem Gefangenenaustausch] hat | |
diese Rolle untermauert – und im globalen Kontext als Vermittler zwischen | |
Ost und West. Auf der Konferenz in Usbekistan betonte er, er wolle aus der | |
geografischen Brücke zwischen Europa und Asien auch eine politische Brücke | |
machen. Nachdem der Westen der Türkei eine echte Mitgliedschaft aus | |
schlechten und guten Gründen verwehrt hat, ist das, bei aller berechtigter | |
Kritik an Erdoğan, das Beste, was die Türkei machen kann. | |
Das Dümmste, was die Bundesregierung, Frankreichs Präsident Macron und die | |
Biden-Regierung in den USA jetzt machen können, wäre, die Türkei in die | |
Arme von Putin und Xi Jinping zu treiben. Für die Diktatoren im Osten wäre | |
das ein Hauptgewinn, der einen Verlust der Ukraine fast aufwiegen würde. | |
30 Sep 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Gipfel-der-Autokraten-in-Usbekistan/!5882050 | |
[2] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/baerbock-erdogan-putin-atomkraftwerk… | |
[3] /Frachter-aus-der-Ukraine/!5872867 | |
[4] /-Nachrichten-im-Ukraine-Krieg-/!5883266 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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