# taz.de -- Rechtsextreme Anschlagsserie: Wer versagte in Neukölln? | |
> Bis heute sind die Anschläge unaufgeklärt. Eine Kommission sieht Fehler | |
> bei Staatsanwaltschaft und VS, aber keine rechten Strukturen bei der | |
> Polizei. | |
Bild: Demonstration am Internationalen Tag gegen Rassismus an der Rudower Spinne | |
BERLIN taz | Es war ausgerechnet die Linke Anne Helm, die in Vertretung des | |
eigentlichen Vorsitzenden Peter Trapp (CDU) am Montag die Sitzung des | |
Innenausschusses leitete. Unter ihrer Aufsicht – [1][Helm ist selbst | |
Neuköllnerin und Opfer rechtsextremer Bedrohungen] – diskutierten die | |
Abgeordneten den Abschlussbericht der Kommission Neukölln, die die | |
rechtsextreme Anschlagsserie im Bezirk untersucht hatte. | |
Deren beide Mitglieder, der [2][Ex-Bundesanwalt Herbert Diemer, einst | |
Chefankläger im NSU-Verfahren, und die ehemalige Polizeipräsidentin von | |
Eberswalde, Uta Leichsenring], hatten seit Oktober 2020 mögliche | |
Versäumnisse der Sicherheitsbehörden bei den Ermittlungen aufgearbeitet – | |
nun haben sie ihr 100-seitiges Ergebnis präsentiert. | |
Mehr als 70 Straftaten, darunter 23 Brandanschläge, werden dem Komplex | |
zugerechnet. Die Hauptverdächtigen jedoch sind auf freiem Fuß. Dieser | |
Umstand sowie zahlreiche Skandale, etwa um [3][nicht weitergegebene | |
Informationen des Verfassungsschutzes] an die Polizei, [4][Beamte, die mit | |
den Hauptverdächtigen] verkehrten, oder einen Staatsanwalt mit angeblicher | |
AfD-Nähe, [5][haben das Vertrauen insbesondere der Geschädigten in Polizei, | |
Verfassungsschutz (VS) und Staatsanwaltschaft erodieren lassen]. Die | |
Kommission hatte es sich daher zur Aufgabe gemacht, von der „Sicht der | |
Betroffenen“ auszugehen, wie Diemer vor dem Ausschuss sagte. | |
Die Untersuchung war umfangreich: Überprüfung von etwa 17.000 Aktenseiten | |
von Polizei und VS, dazu 17 Gigabyte elektronischer Daten, Auswertung von | |
Telefonmitschnitten, Gespräche mit Ermittler*innen und den Opfern. Im | |
Ergebnis sehen Diemer und Leichsenring nicht den großen Skandal um etwaige | |
rechtsextreme Netzwerke oder das „interessengeleitete“ Übersehen von | |
Informationen. Die ausgebliebenen Ermittlungserfolge seien, so sagte es | |
Diemer, „nicht auf rechtsextreme Umtriebe oder verdeckte rechtsextreme | |
Strukturen zurückzuführen“. Stattdessen hätten die Sicherheitsbehörden ih… | |
„Arbeit grundsätzlich ordentlich verrichtet“. | |
Aber: Während der Polizei, insbesondere der im Mai 2019 eingesetzten | |
Sonderermittlungsgruppe [6][BAO Fokus], ein gutes Fazit ausgestellt wird, | |
findet der Bericht kritische Einschätzungen zu der Arbeit von | |
Staatsanwaltschaft und Verfassungsschutz. | |
## Seriencharakter ignoriert | |
So habe das Landeskriminalamt (LKA) den Seriencharakter der Straftaten | |
frühzeitig erkannt, die Staatsanwaltschaft dagegen nicht. Die für | |
politische Verfahren zuständige Abteilung 231 habe es noch im Februar 2018 | |
bei einem Haftantrag gegen die beiden Hauptverdächtigen Sebastian T. und | |
Tilo P. versäumt, die „gleichgelagerten Straftaten sowie der persönlichen | |
Verhältnisse der Beschuldigten und des Umfelds der Delinquenz | |
darzustellen“. Der Antrag sei vom Amtsgericht entsprechend „postwendend | |
abgelehnt“ worden. Ein späterer Haftantrag vom November 2019 und eine | |
Berufung gegen dessen Ablehnung findet dagegen eine lobende Erwähnung. | |
Zudem habe die Staatsanwaltschaft in der ersten Jahreshälfte 2017 drei | |
Monate gebraucht, um nach einem LKA-Bericht ein Ermittlungsverfahren samt | |
Telekommunikationsüberwachung gegen T. und P. zu eröffnen. Dieser lange | |
Zeitraum sie „unüblich“. Die Kommission kritisiert zudem, dass die | |
Staatsanwaltschaft in mehreren Fällen Opfern der Anschläge mitteilte, dass | |
die Verfahren eingestellt seien, obwohl die Ermittlungen zu der Serie | |
weiterliefen. Dies sei laut Diemer „völlig unnötig“ gewesen, es habe | |
„Sensibilität“ vermissen lassen. | |
Im August 2020 hatte die [7][Generalstaatsanwaltschaft die Ermittlungen zur | |
Anschlagsserie an sich gezogen und die bis dato ermittelnden leitenden | |
Staatsanwälte versetzt]. Die beiden hauptverdächtigen Neonazis wurden im | |
Dezember vergangenen Jahres [8][festgenommen, aber nach Entscheidungen des | |
Landgerichts, das einen „dringenden Tatverdacht“ nicht sah, aus der | |
Untersuchungshaft entlassen]. Ein Prozess könnte ihnen dennoch bald gemacht | |
werden. Im Ausschuss sagte Innensenator Andreas Geisel (SPD): „Die | |
Generalstaatsanwältin hat erkennen lassen, dass sie davon ausgeht, dass die | |
Generalstaatsanwaltschaft demnächst Anklage erhebt.“ | |
## Kritik am VS | |
Zur Kritik am VS sagte Leichsenring: Dessen „personelle und technische | |
Ausstattung gehen nicht ganz mit der Zeit“. Es fehle an Programmen zur | |
Analyse und Datenaufarbeitung. Insgesamt 76.000 abgehörte Telefongespräche | |
von Januar 2017 bis Juni 2019 musste der VS auswerten. Eine Stichprobe von | |
etwa 1.000 Gesprächen, die sich Leichsenring und Diemer vorlegen ließen, | |
habe gezeigt, dass „teilweise zu sehr langen Gesprächen nur sehr kurze | |
Protokolle gefertigt wurden“, mitunter auch womöglich relevante | |
Informationen nicht erkannt worden seien. Ein Vier-Augen-Prinzip könne hier | |
Abhilfe schaffen. | |
Ungeklärt ist die Frage, woher die Tatverdächtigen sensible | |
personenbezogene Daten ihrer Opfer erhielten. Die Kommission fand keine | |
Anzeichen, dass Polizist*innen diese abgefragt hätten, verwies aber | |
darauf, dass etwa 1.000 Mitarbeiter des Landesamts für Bürger- und | |
Ordnungsangelegenheiten Zugriff selbst auf gesperrte Daten hätten. Hier | |
müsste die Kontrolle verschärft werden. „Diesem Thema werden wir uns widmen | |
müssen“, sagte dazu Geisel. Eine mögliche erneute Überprüfung der | |
abgehörten Telefonate müsse durch „unabhängige Stellen“ erfolgen. | |
Der CDU-Abgeordnete Burkhard Dregger freute sich, dass der Bericht den | |
Sicherheitsbehörden eine „summa summarum außerordentlich gute Arbeit“ | |
attestiere und es „keine rechtsextremen Netzwerke“ gebe. Gestärkt werden | |
müsse die Arbeit des VS. | |
Dem widersprachen Niklas Schrader (Linke) und Benedikt Lux (Grüne): Beide | |
betonten, die Nichtexistenz rechter Netzwerke in der Polizei sei mit dem | |
Bericht nicht bewiesen. Schrader sieht weiteren Aufklärungsbedarf, etwa zu | |
privaten Kontakten zwischen Polizisten und dem Tatverdächtigen T. Nun den | |
VS aufzurüsten, statt über dessen Versäumnisse zu sprechen, bezeichnete er | |
als denselben Fehler wie den, der nach dem NSU begangen wurde. | |
31 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Erik Peter | |
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