| # taz.de -- Reaktionen auf Biontech-Chefs: Stolz und Irritation | |
| > Özlem Türeci und Uğur Şahin haben einen Impfstoff gegen das Coronavirus | |
| > entwickelt. Jetzt interessieren sich viele für ihre Herkunft. Warum? | |
| Bild: Held:innen im Kampf gegen Corona: Özlem Türeci und Uğur Şahin | |
| Stolz. Das war das erste Gefühl, das ich empfunden habe, als diese | |
| Nachricht kam: Özlem Türeci und Uğur Şahin haben in ihrem Mainzer | |
| Pharmaunternehmen Biontech einen Impfstoff gegen das Coronavirus | |
| entwickelt. Am Montag gaben sie bekannt, dass eine [1][Zwischenanalyse eine | |
| Wirksamkeit von 90 Prozent] ergeben habe. | |
| Auf diesen Stolz folgte schnell Irritation. Denn stolz auf etwas zu sein, | |
| das jemand anderes getan hat, ist mindestens merkwürdig. Gefährlich wird | |
| dieser Stolz, wenn ihn Menschen mit Bezug auf eine imaginierte Gemeinschaft | |
| empfinden: Nationalstolz oder religiöser Stolz. Mein Stolz hatte auch | |
| etwas mit Gemeinschaft zu tun, war aber kein aggressiver, narzisstischer | |
| oder feindseliger, wie ihn Menschen empfinden, wenn sie sich bei | |
| Fußballweltmeisterschaften im Krieg gegen andere Nationen wähnen. | |
| ## Pipi-in-den-Augen-Stolz | |
| Er war ein gerührter, erleichterter Pipi-in-den-Augen-Stolz, den ich nicht | |
| als Teil einer Nationalgemeinschaft, vielleicht aber einer | |
| Leidensgemeinschaft empfand: Türeci und Şahin sind Kinder von türkischen | |
| Migrant:innen, Şahin ist zudem Sohn eines Arbeiters, der in den Kölner | |
| Ford-Werken arbeitete. Und ausgerechnet die beiden lassen die Welt nach | |
| Monaten einer globalen existenziellen Krise auf bessere Zeiten hoffen. | |
| Viele [2][Menschen mit ähnlichen Biografien freuten sich in den sozialen | |
| Medien], und waren auch stolz. | |
| Meine Irritation blieb. Denn die Herkunft der beiden Forscher:innen | |
| interessierte auch andere sehr. „Vom Gastarbeiterkind zum Weltretter“, | |
| überschrieb die Rheinische Post, und der Tagesspiegel tat dies mit der | |
| Zeile „Von Einwandererkindern zu Multi-Milliardären“. Andere Zeitungen | |
| erzählten spätestens nach den ersten Absätzen eine erfolgreiche | |
| Migrationsgeschichte. [3][Auch die taz stieg mit der Herkunft der beiden in | |
| einen Text ein], um daraufhin zu sagen, dass Herkunft eigentlich keine | |
| Rolle spielen sollte. Und türkische Medien waren so richtig aus dem | |
| Häuschen: „Die Welt spricht über die zwei Türken, die die Menschheit | |
| gerettet haben“, lautete die Überschrift des regierungsnahen Mediums A | |
| Haber. | |
| Erregt-schillernde Wortmeldungen in den sozialen Medien ergänzten die | |
| Berichterstattung: Die einen sahen in der Nachricht den Beweis dafür, dass | |
| Multikulti doch nicht gescheitert war; [4][andere twitterten sie als Spitze | |
| gegen die AfD], weil es einen Impfstoff nicht geben würde, wenn man Stimmen | |
| aus deren Reihen gefolgt wäre und Deutschtürk:innen [5][in Anatolien | |
| entsorgt hätte]; Konservative in der Türkei waren stolz auf Menschen, für | |
| die sie sich normalerweise nur vor türkischen Wahlen interessieren; ein | |
| [6][FDP-Bundestagsabgeordneter sah] sogar Globalisierungs- und | |
| Kapitalismuskritik widerlegt. | |
| Die einen freuten sich, weil Menschen mit ähnlichen Biografien wie sie, die | |
| viel zu lange abgewertet wurden, nun die Welt veränderten; die anderen | |
| trafen sich auf dem Jahrmarkt der Projektionen und lasen aus der Nachricht | |
| über Türeci und Şahin das heraus, was sie herauslesen wollten. | |
| Noch vergangene Woche gab es andere Helden zu feiern: Beim islamistischen | |
| Terroranschlag in Wien hatten drei junge Männer mit türkischen und | |
| palästinensischen Wurzeln einer Frau und einem Polizisten geholfen. Die | |
| österreichische und internationale Presse feierte sie. [7][Der | |
| Schriftsteller Richard Schuberth kritisierte den „hysterischen | |
| Enthusiasmus“] darüber, dass auch Muslime hilfsbereit sind. „Die rechte | |
| Totalidentifikation dieser Menschen als Muslime wird von links projektiv | |
| übernommen“, schrieb er. | |
| ## Handarbeit? Kopfarbeit! | |
| Der besondere Fokus auf die Herkunft der Held:innen zeigt, dass die | |
| Euphorischen ihnen ihre Heldentaten eigentlich nicht zugetraut hätten – im | |
| Fall der Wissenschaftler:innen Türeci und insbesondere des Arbeitersohns | |
| Şahin geht es auch um die Kopfarbeit, die man Menschen nicht zutraut, deren | |
| Eltern einst für lästige Handarbeit nach Deutschland gekommen sind. | |
| Zugleich zeigt sich, dass die Anerkennung dieser Menschen in Deutschland an | |
| Bedingungen geknüpft ist: Nur ein Migrant, der viel leistet, ist ein guter | |
| Migrant. Und vielleicht irgendwann auch einmal unhinterfragter Teil dieser | |
| Gesellschaft. | |
| Ich bin immer noch stolz. Aber ich weiß auch: Solange wir uns nicht primär | |
| über die gute Tat selbst, sondern darüber freuen, dass sie von Menschen mit | |
| Migrationshintergrund und aus Arbeiterfamilien begangen wurde, so lange | |
| gibt es noch viel zu tun in diesem Land. | |
| 11 Nov 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Erfolg-bei-Suche-nach-Corona-Impfstoff/!5727000 | |
| [2] https://twitter.com/BaharAslan_/status/1325829901153394688 | |
| [3] /Portraet-ueber-die-Biontech-Chefs/!5723970 | |
| [4] https://twitter.com/erik_fluegge/status/1326272699392536578 | |
| [5] /Strategische-Provokation-der-AfD/!5436992 | |
| [6] https://twitter.com/johannesvogel/status/1325790120851755015 | |
| [7] https://www.derstandard.de/story/2000121449874/der-terrorist-als-sinnstifter | |
| ## AUTOREN | |
| Volkan Ağar | |
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