# taz.de -- Punksängerin Poly Styrene: Irgendwas mit Plastik | |
> Am 3. Juli hätte die britische Punksängerin Poly Styrene ihren 65. | |
> Geburtstag gefeiert. Erinnerung an eine unterbewertete Künstlerin. | |
Bild: Frau Styropor zeigt ihre Zähne: Poly Styrene | |
Die Suche nach Identität ist das zentrale Thema von Adoleszenzen: | |
„Identität ist die Krise, kannst du es nicht sehen?“ Mit diesen Worten | |
erforschte die Britin Poly Styrene schon 1978 in einem Song mit ihrer | |
Punkband X-Ray Spex ihren Platz in der Gesellschaft und schrie sich | |
gleichzeitig ihre Wut auf die Klüngel-Clubs der britischen Subkulturen von | |
der Seele. | |
„Wenn du in den Spiegel siehst, siehst du dann dich? Siehst du dich auf dem | |
Fernsehbildschirm oder auf den Magazinen? Und wenn du dich siehst, musst du | |
dann schreien?“ So geht es weiter in „Identity“, dem Signatursong von X-R… | |
Spex. | |
Poly Styrene wurde 1957 als Marianne Joan Elliott-Said geboren. Als sie | |
diese Zeilen im Alter von 19 Jahren sang, war sie schon zwei Jahre Sängerin | |
der von ihr gegründeten X-Ray Spex: einer Band, die in den frühen Tagen des | |
Londoner Punk nicht nur mit Styrenes Stimme auffiel, sondern auch mit dem | |
„hupenden“ Saxofon der damals erst 16-jährigen Musikerin Lora Logic (Susan | |
Whitby). | |
Als „hupend“ beschrieb [1][die New Yorker Autorin Vivien Goldman] den Klang | |
des Blasinstruments, mit dem sich X-Ray Spex zu Beginn von den anderen | |
lauten, wütenden und oft irgendwo zwischen Dilettantismus und Autodidaktik | |
pendelnden Punk-Bands abhoben. | |
## Frühe Pionierinnen | |
Styrene und Logic waren nicht nur zwei der ersten Frauen auf der Bühne des | |
Punk, sondern Styrene auch sehr wahrscheinlich die erste Schwarze | |
Punk-Sängerin. Styrenes Mutter war Britin, ihr Vater kam aus Somalia. | |
„Meine Mutter hatte nie wirklich das Gefühl, irgendwo dazuzugehören“, | |
zitiert Vivien Goldman Poly Styrenes Tochter Celeste Bell. | |
Das bezog sich auch auf die Interpolationen des Punk mit jamaikanischer | |
Kultur, von der Styrene aber ebenso wenig ein Teil war wie von der Gruppe | |
der weißen Vorstadtkids, mit denen sie aufgewachsen war. Styrene kämpft in | |
„Identity“ aber nicht nur mit ihrem eigenen Identitätsverständnis. | |
Eine andere wichtige Inspiration für den Song war der Tribalismus, die | |
unterschiedlichen Jackengruppen der britischen Jugendkultur, erzählt Bell | |
bei Goldman. „Punks, Hippies, Rastas, Skins, Disco-Dollies – alle | |
versuchten, über die Kleidung, die sie trugen, und die Musik, die sie | |
hörten, ihre Identität zu behaupten. Alle wollten Individuen sein, aber am | |
Ende waren sie genauso wie alle anderen in ihrer eigenen kleinen Gruppe.“ | |
## Faszination für Neon und Künstlichkeit | |
Sich mithilfe von Kunst einen Platz in der Gesellschaft erkämpfen, das hat | |
Poly Styrene getan – und nahm die Regeln ebendieser auseinander. Ihren | |
Künstlerinnennamen hat sie in den Gelben Seiten gefunden, auf der Suche | |
nach „something plastic“. | |
„Künstlich und wegwerfbar sollen Popstars sein“, sagte die Sängerin in | |
einem Interview, „also dachte ich, ich treibe das noch weiter“. Polystyrol | |
ist auch in Deutschland ein weit verbreitetes Material, aber eins dieser | |
Dinge, die man nur unter dem Namen kennt, den eine Firma ihrem Produkt | |
gegeben hat: Styropor. | |
Marianne Joan Elliott-Said alias Poly Styrene ist fasziniert von Plastik, | |
Neon und Künstlichkeit. In dem Song „The World Turned Day-Glo“ stellt sie | |
sich eine Welt aus Neonfarben vor, fährt über Acrylstraßen an | |
Kunstschneebergen vorbei und hört Folienblätter rauschen. | |
Hinter diesem Spiel mit Materialität und (retro)futuristischen Bildern | |
steckt nicht einfach nur eine Vorliebe für alle Plastizitäre, sondern eine | |
ziemlich frühe Reflexion von Künstlichkeit und der Auswirkungen der | |
Konsumgesellschaft. „When I put on my make-up / The pretty little mask not | |
me / That’s the way a girl should be / In a consumer society“, singt Poly | |
Styrene in dem Song „Art-I-Ficial“ auf Basis eines drängendes Gitarrenriffs | |
und eines treibendes Schlagzeugs. | |
## Styrene konnte auch Melodie | |
Die Karriere von Poly Styrene endete aber keinesfalls, als sich Punk zu | |
Beginn der 1980er weiterentwickelte und in verschiedene Subgenres | |
aufspaltete. Bereits 1980 erschien Poly Styrenes Soloalbumdebüt | |
„Translucence“, wieder mit einem leuchtenden Titel, auf dem sie musikalisch | |
wesentlich zahmere Wege geht. In Songs wie „Dreaming“ beweist sie, dass die | |
unkontrollierbare Energie ihrer Punk-Intonation nichts damit zu tun hat, | |
dass sie nicht melodisch singen kann. | |
Dem Zusammenspiel mit dem Saxofon blieb sie auch in den folgenden Jahren | |
treu, bis 2011 mit „Generation Indigo“ ihr letztes Album erschien, wieder | |
reflektiert sie darin erstaunlich aktuelle Themen: „Virtual Boyfriend“, | |
ihre letzte Single, ist eine Abrechnung mit Onlinedating. Nur wenige Monate | |
nach der Veröffentlichung von „Generation Indigo“ stirbt Poly Styrene an | |
Krebs. | |
Im vergangenen Jahr tat sich Styrenes Tochter Celeste Bell mit dem | |
Regisseur Paul Sng zusammen, um die Geschichte ihrer außergewöhnlichen | |
Mutter zu erzählen. „I Am A Cliché“ haben sie ihren Dokumentarfim über | |
einen Menschen genannt, der dem Klischee immer sein genaues Gegenteil | |
vorgehalten hat. Auf 89 Minuten Länge machen die Produzent*innen keinen | |
Bogen um Traumata und die Schattenseiten eines von Männern dominierten | |
Musikbusiness, in dem eine junge Schwarze um Anerkennung kämpfte. | |
Darin zu hören ist auch eine der berühmtesten Songansagen Styrenes: „Some | |
people think little girls should be seen and not heard. But I think: Oh | |
Bondage Up Yours!“, frei übersetzt: „Manche Leute denken, Mädchen sollte | |
man nur sehen können, nicht hören – aber ich denke: Schiebt euch eure | |
Fesseln doch sonst wo hin!“ | |
30 Jun 2022 | |
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[1] /Vivien-Goldmans-Musikbiografie/!5604243 | |
## AUTOREN | |
Diviam Hoffmann | |
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