# taz.de -- Neues Album von Santigold: Wenn der Bass dich heimsucht | |
> Santigold thematisiert in den Songtexten ihres Albums „Spirituals“ | |
> US-Geschichte und die Benachteiligung von Müttern in der Gesellschaft. | |
Bild: Die Musikerin Santi White | |
Die verwischte Langzeitbelichtung eines Gesichts, verzerrt wie eine | |
Gruselmaske vor einem dunklen Hintergrund, ist auf dem Cover zu sehen. Der | |
Auftaktsong des neuen Albums der US-Musikerin Santigold heißt auch noch „My | |
Horror“. Der Ton scheint gesetzt. | |
Doch mit düsteren Gruselsounds hat Santigolds neues Album „Spirituals“ | |
nichts gemein. Im Opener singt die 42-jährige Santi White zwar von ihren | |
eigenen Dämonen, die sie nicht aus dem Bett kommen lassen, tut dies aber | |
auf eine so leichtfüßig vor sich hinhopsende Gitarrenmelodie, dass man sich | |
zweimal überlegt, was ihr Horror denn eigentlich bedeuten soll. | |
Trotz aller Leichtigkeit und Süße, die in ihrer hellen Stimme mitschwingen, | |
baut Santigold Spannung auf, wenn sie die letzte Silbe des Wortes „Horror“ | |
hochzieht und ihre Stimme überschlagen lässt. Die Musik erinnert dabei | |
entfernt an „Disparate Youth“, [1][den größten Hit] von Santigold aus dem | |
Jahr 2012, mit dem sie den meisten im Ohr geblieben sein dürfte. | |
„Spirituals“ ist Santigolds viertes Album. Ihrem Debüt (als Santogold) | |
folgten [2][zwei weitere Alben] und zuletzt ein Mixtape (2018). Mit ihrem | |
neuen Werk bricht Santigold jetzt auch eine kreative Blockade: „Diese Songs | |
aufzunehmen war eine Rückkehr zu mir selbst, nachdem ich in einer Art | |
Überlebensmodus festgesteckt bin.“ | |
Den Modus, den sie anspricht, hat sie nach der Geburt ihrer Zwillinge | |
eingenommen. Im Lockdown saß sie mit drei Kindern zu Hause fest: „Ich habe | |
von früh bis spät gekocht, geputzt, Wäsche gewaschen und Windeln | |
gewechselt. Ich steckte fest in einem Teil von mir, der zu klein war. Es | |
hat sich angefühlt, als wären die anderen Aspekte meines Selbst immer | |
weiter geschrumpft, verschwunden“, so beschreibt sie die Erfahrungen, die | |
sich mit ihrer Mutterrolle verknüpften. | |
## Stillstand in der Pandemiezeit | |
Stillstand (und Karriereknick), der nun speziell in der Coronapandemie, | |
aber auch allgemein nach Geburten immer noch Mütter wesentlich härter | |
trifft als Väter, macht also auch vor Musikerinnen nicht halt. Die ganz | |
alltäglichen Benachteiligungen, die Santigold während der Coronapandemie | |
erfahren hat, stehen nun im Kontrast zum Glamourösen ihres Sounds. | |
Überhaupt nimmt Santi White Kontraste in den Fokus. Ob im verwischten | |
Entschwinden ihrer Albumgrafik oder mit ihrer Stimme, die immer wieder hell | |
über den Hooklines thront oder an anderer Stelle gewohnt spröde und | |
rhythmisch auf treibende Beats und Synthies gesetzt ist. | |
In „Nothing“ hallt eine Dancehall-Bassline durch den Raum, ein Mittel, das | |
gerade äußerst en vogue ist bei großen (elektronischen) Pop-Acts, für die | |
Santigold zu Beginn ihrer Karriere ja tatsächlich Musik komponiert hat. | |
Aber hier klingt dieses Stilmittel nicht aufdringlich, eher geisterhaft, | |
denn dem tiefen Bass werden heimsuchende Vocals an die Seite gestellt. | |
„Spirituals“ oszilliert zwischen düsteren Echokammern und gleißend-hellen | |
Synthiefahnen, treibenden Beats und leuchtenden Soulfarben. Etwa in der | |
Single „Shake“: Den elektronischen Popsong verwandelt Santigold durch einen | |
kraftvollen Chant in mitreißenden Soul. Im Video tanzt sie im blütenweißen | |
Anzug, perkussioniert dazu mit einem Schellenkranz. Auch in diese zunächst | |
affirmative Szenerie sind Kontraste eingearbeitet: leichte Risse in der | |
Wand, ihre abgenutzten Turnschuhe, beides der Makellosigkeit ihres Anzugs | |
entgegengesetzt, kleine Stolpersteine im Bilderfluss des Clips. | |
## Politische Untertöne | |
Wirklich durchgerüttelt wird dieses Bild spätestens dann, wenn die | |
Performance der Künstlerin von einem harten Wasserstrahl unterbrochen wird. | |
Die erste Assoziation: Polizeigewalt. Und tatsächlich will Santigold auf | |
den Umstand aufmerksam machen, dass friedlicher politischer Protest von der | |
Exekutive immer wieder gewaltsam zerschlagen wird. | |
„Spirituals“ hat auch politische Untertöne. Schon sein Titel ist ein Wink | |
[3][an die Musikkultur, die auf den Baumwollfeldern während der Sklaverei | |
in den US-Südstaaten] unter Mühsal gelebt wurde: Gesänge, einerseits, um | |
Zwangsarbeit durchzustehen, aber eben auch, um sich durch Spiritualität und | |
Kunst ausdrücken zu können, was den Versklavten ansonsten nicht erlaubt | |
war. | |
Viele Spirituals wurden später zur Vorlage von Bluessongs, bei denen sich | |
wiederum Rhythm & Blues und Rock ’n’ Roll bedienten. Santigold bringt | |
damit zeitgenössische Popkultur zurück zu ihren Wurzeln und zeigt auf, was | |
die transzendentale Kraft von Musik sein kann: Nämlich Freiheit dann zu | |
fühlen, wenn keine besteht. | |
16 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Diviam Hoffmann | |
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