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# taz.de -- Proteste im Irak: Kampf gegen ein zähes System
> Nach Massenprotesten verspricht die Regierung Reformen und kündigt eine
> Kabinettsumbildung an. Das wird kaum zur Beruhigung der Lage beitragen.
Bild: Die Proteste begannen mit der Forderung, die Korruption zu beenden
Nach den heftigen Protesten, die den Irak seit vergangener Woche
erschüttern, hat Ministerpräsident Adel Abd al-Mahdi eine
Kabinettsumbildung angekündigt. Kommende Woche sollen die neuen Minister
bekanntgegeben werden. Zehntausende vor allem junge Menschen sind in den
vergangenen Tagen auf die Straße gegangen. Die Antwort der
Sicherheitskräfte war brutal: Armee, Polizei und Milizen bekämpften die
Protestierenden mit Wasserwerfern, Tränengas und scharfer Munition.
Mindestens 110 Demonstranten sind getötet, mehr als 6.000 verletzt worden.
Unerwartet kommen die Proteste nicht. Die Menschen, die in Bagdad,
Nasirija, Nadschaf und anderen Städten auf die Straße gehen, sind wütend.
Sie prangern die Arbeitslosigkeit, die schlechte Infrastruktur und die
Korruption an. „Wenn ich eine Zukunft will, muss ich auswandern“, sagt ein
Demonstrant der taz am Telefon, „aber um etwas in meinem Land zu ändern,
bin ich bereit, mein Leben zu riskieren.“
In Videos von den Demonstrationen hört man immer wieder einen altbekannten
Slogan: „Das Volk will den Sturz des Regimes!“ Acht Jahre nach dem
Arabischen Frühling, nachdem die Hoffnung auf demokratischen Wandel in
vielen Ländern Krieg oder einer noch brutaleren Diktatur gewichen ist,
ertönt der Satz nun wieder – nicht nur im Irak, [1][auch im Sudan], wo die
BürgerInnen den Diktator Omar al-Baschir stürzten, [2][und in Algerien], wo
die DemonstrantInnen eine fünfte Amtszeit von Abdelaziz Bouteflika
verhinderten. [3][Auch in Ägypten] gingen vor drei Wochen einige Hundert
Wagemutige zum ersten Mal seit sechs Jahren gegen Abdel Fatah al-Sisis
Diktatur auf die Straße.
Der Irak aber unterscheidet sich von den anderen Ländern in einem
wesentlichen Punkt: In Bagdad herrscht kein diktatorisches Regime, kein
Alleinherrscher, dessen Sturz Voraussetzung wäre für den auf den Straßen
geforderten Wandel. Saddam Hussein wurde bereits 2003 gestützt, nicht vom
Volk, sondern von den USA. Seither ist das Land – zumindest auf dem Papier
– eine Demokratie.
## Korruption als Folge der Irakinvasion
Dennoch kämpft vor allem die irakische Jugend mit Problemen, die auch in
anderen arabischen Ländern virulent sind: 25 Prozent der Irakerinnen und
Iraker sind arbeitslos, unter den jungen Erwachsenen sind es bis zu vierzig
Prozent. Und das obwohl das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf dank der
Öleinnahmen nach den Golfstaaten das höchste im arabischen Nahen Osten ist.
Doch der Irak ist auch eines der korruptesten Länder der Welt. Statt mit
den Staatseinnahmen Straßen zu sanieren und die Produktivwirtschaft
anzukurbeln, verschwindet das Geld über Regierungsaufträge auf den Konten
von Briefkastenfirmen. Diese sind in der Regel zurückzuverfolgen zu
Politikern oder ihnen nahe stehenden Geschäftsmännern.
Die Korruption ist auch ein Resultat des politischen Systems, das nach 2003
geschaffen wurde und das die Macht unter den verschiedenen Volks- und
Religionsgruppen des Landes aufteilen soll. Doch die Parteien teilen vor
allem die Ressourcen des Landes unter sich auf.
Aus der Parlamentswahl 2018 ging das Wahlbündnis Sairun des schiitischen
Klerikers Muqtada al-Sadr als stärkste Kraft hervor. Er war mit
nationalistischen Parolen und dem Versprechen angetreten, der Korruption
den Kampf anzusagen. Die zweitstärkste Kraft, das Fatah-Bündnis,
repräsentiert die schiitischen Milizen, die wesentlich am Kampf gegen die
Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) beteiligt waren.
Fatah steht dem Iran nahe. Premierminister Adel Abd al-Mahdi, der nun seit
einem Jahr regiert, ist ein Kompromisskandidat, der als schwache
Persönlichkeit gilt und wenig Rückhalt hat. Auch wenn im Irak keine
Diktatur herrscht, sind alle politischen Kräfte mehr oder weniger Teil
eines korrupten Systems. Eine starke Opposition gibt es nicht.
## Kampf gegen Gelee
Ähnlich komplex ist das Geflecht der Sicherheitskräfte: Neben der Armee und
der Polizei gibt es dutzende Milizen, von denen einige bereits seit 2003
existieren, andere im Krieg gegen den IS entstanden sind – nach einer Fatwa
von Großajatollah Ali al-Sistani, der zum Kampf gegen den IS aufrief.
Einige der Milizen gehören zu politischen Parteien, viele stehen dem Iran
nahe – und manche haben sich an der Niederschlagung der Proteste beteiligt.
Der Analyst Fanar Haddad vom Middle East Institute drückt es so aus:
Während der Protest gegen eine Diktatur dem Kampf gegen einen Felsen
gleiche, seien die Demonstrationen im Irak ein Kampf gegen Gelee.
Die mehrheitlich friedlichen Demonstrationen wurden von den
Sicherheitskräften mit äußerster Brutalität bekämpft. Augenzeugen
berichten, dass direkt gezielt und scharf geschossen wurde. In einem Video
wird ein Demonstrant, während er in die Kamera spricht, von einer Kugel
getroffen. Ein Aktivist, der seinen Namen nicht nennen will, sagt, der Iran
treibe hinter den Kulissen die Gewalt seitens der Sicherheitskräfte voran.
Vieles bleibt unklar, zum Beispiel: Wer waren die Vermummten, die am
Wochenende die Fernsehstationen stürmten, die über die Proteste
berichteten.
Als Reaktion auf die Proteste hat die Regierung Reformen angekündigt,
darunter mehr Geld für sozialen Wohnungsbau sowie Trainingsprogramme für
Arbeitslose. Doch wird dies kaum zur Beruhigung der Lage beitragen.
Reformversprechen werden im Irak kaum je umgesetzt. Deswegen fordern die
DemonstrantInnen heute auch keine Reformen mehr, sondern den Rücktritt der
gesamten Regierung. Die Gewalt der vergangenen Tage hat das Vertrauen in
die Regierung nicht gestärkt. Sollten die DemonstrantInnen davon nicht doch
noch eingeschüchtert werden, könnten dem Land weiterhin sehr unruhige
Zeiten bevorstehen.
10 Oct 2019
## LINKS
[1] /Politischer-Wandel-in-Nordafrika/!5585535
[2] /Praesidentschaftswahl-in-Algerien/!5577425
[3] /Repression-in-Aegypten/!5630804
## AUTOREN
Meret Michel
## TAGS
Irak
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