# taz.de -- Protestbewegung gegen Lukaschenko: Nach der Revolte | |
> In Belarus brachte die Protestbewegung das Regime an den Rand des | |
> Scheiterns. Doch das ist vorbei. Warum Lukaschenko wieder fest im Sattel | |
> sitzt. | |
Bild: Immer noch an der Macht: Alexander Lukaschenko | |
Fast ein Jahr nach dem Beginn der Massenproteste ist der belarussische | |
[1][Präsident Alexander Lukaschenko] immer noch an der Macht. Wird die | |
Opposition auch dieses Mal daran scheitern, grundlegende Veränderungen | |
herbeizuführen, für die so viele Belarussen gekämpft haben? Die Aussichten | |
sind düster. Die Gründe liegen in Entwicklungen seit der Unabhängigkeit des | |
Landes 1991. | |
Wenn man die Länder Zentralasiens ausklammert, ist Belarus das einzige Land | |
im postsowjetischen Raum, in dem nie Demokraten an der Macht waren. Viele | |
Jahre lag die gesellschaftliche Unterstützung der Opposition stabil bei 20 | |
bis 25 Prozent, manchmal bei 30. Der Kampf der Opposition unter den | |
Bedingungen eines autoritären Regimes hat jedoch seine eigenen | |
Charakteristika. So wurde die belarussische Opposition gewaltsam aus dem | |
politischen System verbannt. Auf legalem Weg kann sie dorthin nicht | |
zurückkehren. Die Wahlen sind zur Farce verkommen. | |
Die Regimegegner wurden in eine Art Getto gezwungen. Oppositionelle sind | |
ständigen Repressionen ausgesetzt, die mit jedem Jahr stärker werden. Folgt | |
man den Staatsmedien, dann gibt es in Belarus keine Opposition. Und es kann | |
sie auch nicht geben, weil das ganze Volk Alexander Lukaschenko | |
unterstützt. Ihm stellte sich lediglich eine Handvoll Schläger entgegen – | |
Feinde des Volkes, die der Westen gekauft habe. Genau so handelten die | |
Behörden auch 2020 wieder. Doch da hatte sich die Situation bereits radikal | |
verändert. | |
Die traditionelle Opposition war total marginalisiert. Ein | |
Vierteljahrhundert hatte es in Belarus weder eine politische | |
Auseinandersetzungen noch einen politischen Wettbewerb gegeben. Das prägte | |
auch die Opposition: Wenn kein Wettkampf stattfindet, verliert auch ein | |
guter Athlet seine sportliche Form. Die Jahre im Getto hatten die | |
politischen Instinkte der führenden Oppositionellen verkümmern lassen. Als | |
die Gesellschaft nach 25 Jahren endlich zu Veränderungen bereit war, war | |
die traditionelle Opposition unfähig, sich an die Spitze der Bewegung zu | |
setzen. Sie konnten auf die Politisierung in der Gesellschaft nicht | |
angemessen reagieren. | |
## Jeder, außer Lukaschenko | |
In der belarussischen Gesellschaft hatte sich bis zum Sommer 2020 ein | |
großes Protestpotenzial angesammelt. In der Bewegung gegen Lukaschenko | |
fanden sich Leute mit unterschiedlichen Werten, Ideologien und | |
geopolitischen Orientierungen zusammen. Sie einte ein Slogan: „Jeder, außer | |
ihm.“ Das politische Erwachen, die Beteiligung vieler Menschen am | |
öffentlichen Leben schuf eine Nachfrage nach neuen Führungskräften. | |
Schließlich war es Swetlana Tichanowskaja, die das Protestpotenzial auf | |
sich konzentrierte. Für sie zu stimmen, bedeutete nicht, eine neue | |
Präsidentin zu wählen, sondern gegen Lukaschenko zu stimmen. Es war die | |
Möglichkeit, sich von seiner Alleinherrschaft zu befreien. | |
Bis jetzt werden die belarussischen Proteste von niemandem angeführt und | |
kontrolliert. Auch Tichanowskaja hat diese Rolle nicht beansprucht. Jetzt | |
versucht ihr Stab jedoch, die Rolle eines politischen Zentrums der | |
Protestbewegung zu übernehmen. Mittlerweile ist dort eine bedeutende | |
Infrastruktur entstanden: Telegram-Kanäle sowie Haus- und | |
Stadtteilgemeinschaften. | |
Für die Kommunikation gibt es eigene Chats, die eine leichte und schnelle | |
Mobilisierung der Protestbewegung ermöglichen, die jederzeit wieder auf den | |
Plan treten kann. Und da reicht bereits der kleinste Vorwand für eine neue | |
Explosion. Tichanowskaja hat mittlerweile internationales Renommee und sich | |
unter anderem mit Kanzlerin Merkel getroffen. Von solchen Kontakten kann | |
Lukaschenko nur träumen. Doch konkrete Ergebnisse für Belarus sind bislang | |
nicht zu erkennen. | |
## Drei Oppositionszentren | |
Heute gibt es im Ausland drei Zentren der Opposition: Den [2][Stab | |
Tichanowkajas in Litauen], die Anti-Krisen-Verwaltung unter der Leitung von | |
Pawel Latuschko (Ex-Kulturminister in Belarus, Anm. d. Red.) in Polen sowie | |
die Mannschaft von Waleri Zepkalo (wurde nicht als Kandidat bei der | |
Präsidentenwahl 2020 zugelassen, Anm. d. Red.) in Lettland. Es gibt | |
Zusammenarbeit und Koordination, aber auch Konkurrenz. Doch als legitime | |
Anführerin gilt Tichanowskaja. | |
Und dennoch: Neue Massenproteste wird es in naher Zukunft nicht mehr geben. | |
Das hat mehrere Gründe. Revolutionäre Ausbrüche sind ein seltenes Phänomen | |
in der Geschichte. Damit es dazu kommt, braucht es eine Kombination vieler | |
günstiger Umstände. Das war 2020 der Fall. Aber das scheint vorbei zu sein. | |
Massenproteste können ihrer Natur nach nicht von langer Dauer sein. Es ist | |
unmöglich, eine große Anzahl von Menschen für lange Zeit in einem Zustand | |
emotionaler Spannung zu halten. | |
Die massenhaften Repressionen tun ein Übriges. Der Preis dafür, auf die | |
Straße zu gehen, ist im Vergleich zu 2020 um ein Vielfaches gestiegen. | |
Zudem erfordert die Teilnahme an Straßenprotesten ein starkes Motiv. | |
Gefühle reichen nicht aus. Die Menschen müssen die Bedeutung des Risikos | |
verstehen und sie müssen ein Ziel vor Augen haben. 2020 gab es die | |
Hoffnung, dass Lukaschenko zurückzutreten und es Neuwahlen geben würde. | |
Diese Hoffnungen sind verflogen. | |
Jetzt ist eine Demobilisierung und Entpolitisierung der Gesellschaft | |
erkennbar. Überdies haben viele Belarussen aus politischen Gründen ihr Land | |
verlassen. 2020 demonstrierte die protestierende Gesellschaft Stärke, die | |
Staatsmacht geriet in die Defensive. Teile der Gesellschaft, die das | |
derzeitige Regime nicht aktiv unterstützen, versammelten sich damals hinter | |
den Protesten. | |
Doch diese Schwankenden reagieren sensibel auf Konjunkturen. Jetzt neigen | |
sie dem „Gewinner“ Lukaschenko zu. Sie werden zwar nicht auf die andere | |
Seite der politischen Barrikaden wechseln. Aber sie stellen sich auch nicht | |
mehr dem Staat entgegen. Das Regime hat sich eine Atempause verschafft. Und | |
die könnte dauern. | |
Aus dem Russischen Barbara Oertel | |
4 Jun 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Neuer-Grosskredit-fuer-Lukaschenko/!5771555 | |
[2] /Opposition-in-Belarus/!5756199 | |
## AUTOREN | |
Waleri Karbalewitsch | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Krisenherd Belarus | |
Belarus | |
Alexander Lukaschenko | |
Swetlana Tichanowskaja | |
Sportler | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Belarus | |
Belarus | |
Schwerpunkt Krisenherd Belarus | |
Kolumne Notizen aus Belarus | |
Schwerpunkt Krisenherd Belarus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Russland will Kickboxer ausliefern: Alexei Kudin droht Haft in Belarus | |
Einst ehrte Diktator Alexander Lukaschenko den Profi-Kickboxer als | |
„verdienten Sportler der Republik Belarus“. Jetzt will er ihn einsperren. | |
Politische Gefangene in Belarus: Hinter Gittern | |
Weggesperrt, misshandelt, verurteilt: In Belarus sind mindestens 454 | |
politische Gefangene in Haft. Die taz stellt vier von ihnen vor. | |
Schreckensszenarien in Belarus: Der Eiserne Vorhang fällt | |
Jetzt, wo der Flugverkehr gestoppt ist, wird die Angst der Menschen noch | |
größer. Olga Deksnis erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 89. | |
Entführter Oppositioneller in Belarus: „Ein Mann mit Eiern aus Stahl“ | |
Der inhaftierte Blogger Roman Protassewitsch legt in einem Interview ein | |
Geständnis ab und lobt Belarus' Machthaber. Alles deutet auf Folter hin. | |
Belarussischer Musiker über Proteste: „Wir werden gewinnen“ | |
Der belarussische Musiker Igor Bancer kommt in den nächsten Tagen für acht | |
Monate in eine Strafkolonie. Ein Gespräch darüber und zur Stimmung in | |
seinem Land. | |
Sanktionen gegen Lukaschenkos Regime: Für ein freies Belarus | |
Die Repressionen durch Lukaschenkos Behörden rufen Reaktionen der EU | |
hervor. Janka Belarus erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 88. | |
Sanktionen gegen Belarus: Reisewarnung aus Washington | |
Nach der Festnahme des Bloggers Protassewitsch bereiten jetzt auch die USA | |
Sanktionen gegen Belarus vor. Sie sollen Staatsunternehmen und Lukaschenkos | |
Umfeld treffen. |