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# taz.de -- Postpunk-Klassiker von The Pop Group: Die Macht der Arroganz
> Vor 40 Jahren veröffentlichte die Bristoler Pop Group ihr Album „Y“. Wie
> gut ist es gealtert? Eine Bestandsaufnahme zur Wiederveröffentlichung.
Bild: Wollten nicht bei „irgendwelchen Waffenhändlern um einen Plattenvertra…
[1][Die Geschichte der Pop Group] ist die Geschichte von bösen Menschen,
die wider Willen Gutes bewirken. Und von gescheiterten Ambitionen, die
wider Willen Gutes bewirken. Von den knapp 500.000 Menschen, die in
[2][Bristol im Südwesten Englands] leben, ist nur die Hälfte weiß. Das ist
eine Spätfolge des boomenden Handels mit Sklaven im 18. Jahrhundert, der
ebenso zu Wachstum und Wohlstand der Hafenstadt beitrug wie die ausgedehnte
Welttournee englischer Eroberer zwecks Errichtung von Kolonien fürs
Vereinte Königreich.
Die Spätfolgen dieser Menschheitsverbrechen wiederum klingen super:
„Musikalisch hat die Stadt den Bristol Sound hervorgebracht.“ So steht es
ganz oben im Wikipedia-Eintrag, weit vor dem Sklaven- und
Kolonialismus-Gedöns. Unter Bristol-Sound versteht das Onlinelexikon
Trip-Hop-Bands und -Künstler:innen wie Massive Attack, [3][Tricky] und
Portishead.
Die fünf jungen, weißen Männer, die sich in den späten Siebzigern in
Bristol zusammentun und den kontrafaktischen Namen The Pop Group geben,
machen ungefähr das Gegenteil von Trip Hop, sollten aber dringend in die
Geschichtsschreibung eingehen, als Hebammen, Godfathers oder Urmütter des
Bristol-Sounds. Die Pop Group habe „Dub-Delirium in den Mix“ gebracht,
schrieb der Pop-Historiker Simon Reynolds in „Rip it up and start again –
Postpunk 1978-1984“. Dub und Mix sind zentrale Kulturtechniken in der
hochproduktiven Ära des Postpunk.
Und Dub und Mix sind Signifikanten des postkolonialen Großbritanniens. Vor
allem in den Großstädten profitiert Postpunk von der kolonialen
Vergangenheit des UK, von Eingewanderten aus Asien, Afrika und der Karibik,
die ihre Musiken mitbringen.
## Im musikalischen Schmelztiegel
„Ich habe schon vor Punk zu allen möglichen Alben von I-Roy und Big Youth
mitgesungen“, erzählt Mark Stewart, der berserkende Shouter der Pop Group,
in einem Gespräch Mitte der nuller Jahre. Die gravitätischen Stimmen der
Roots-Reggae-Veteranen liegen in der Luft in Bristol, in Brixton, in den
Schwarzen Flecken des United Kingdom. Hier floriert die aus Jamaika
importierte Soundsystemkultur. Im musikalischen Schmelztiegel treffen Dub
und Reggae auf Funk und Punk, etwas Neues entsteht.
In der Mixture, so scheint es, ist das Modell „Melting Pot“ dem identitären
Modell „Salad Bowl“ überlegen. Zumindest möchte ich daran glauben, so wie
ich glauben möchte, dass Multikulturalismus made in Britain sich zum
Multikulturalismus deutscher Provenienz verhält wie Stormzy zu Bushido.
Oder Little Simz zu Helene Fischer.
Im Melting Pot Bristol wächst Mark Stewart in den 60ern auf, wird knapp
drei Meter groß und sieht schwarz für seine Zukunft. „Wir sind normale
Typen, die schnell angepisst sind“, erklärt sein Bandmate Gareth Sager 1979
im New Musical Express. „Pissed off with what?“ „Everything.“
## Brachialsound und Dilettantismus
Geld für Equipment ist nicht da, also brüllt Stewart ohne Mikro sein
fundamentales Nichteinverstandensein mit den Verhältnissen über den
funkadubbigen Brachialsound seiner Dilettanten-Mates, deren Liebe zu
afroamerikanisch-karibischen Sounds um ein Vielfaches größer ist als ihre
Fähigkeit, diese afroamerikanisch-karibischen Sounds nachzuspielen. Ein
produktives Missverständnis: Weiße Jungs lieben Schwarze Musik, versuchen
sie zu imitieren, scheitern und nutzen mal wirklich das Scheitern als
Chance. Und Punk als Lizenz zur Aktion.
Mark Stewart: „Ich war Fan von Iggy Pop und den New York Dolls, bevor es
Punk gab. Punk war für uns die Selbstermächtigung, rauszugehen, Musik zu
machen, Platten zu produzieren. Vorher musste man ein großes Studio haben
und so sein wie Emerson, Lake & Palmer, um ein Album zu produzieren, oder
man musste aufs Gymnasium gehen, um zu werden wie Genesis. Bei
irgendwelchen Waffenhändlern um einen Plattenvertrag betteln. Aber dann
habe ich Paul Simonon von The Clash gesehen, wie er mit seinem Bass auf der
Bühne steht und nicht weiß, was er damit tun soll. Das hat mich und meine
Mates in Bristol inspiriert. Man spricht ja immer von der Arroganz der
Macht – aber Punk gab uns die Macht der Arroganz.“
Getrieben von der Arroganz der Jugend produziert die Pop Group 1979 das
Album „Y“, das jetzt in einer historisch-kritischen Luxusausgabe neu
aufgelegt wird und längst kanonisiert ist. Ein Werk „für den Kampf gegen
eine lange Litanei der Übel“ schreibt das Onlinemagazin Pitchfork und
platziert „Y“ auf Rang 35 der besten Alben der 70er. Einen „Sturm der
Extreme, Wut, Terror, Angst“ hört The Wire und listet „Y“ unter den hund…
bedeutendsten Alben ever made.
## Sturm der Extreme
40 Jahre später tauchen Fragen auf: Wie hat der Sturm der Extreme überlebt?
Wie klingen Wut, Terror und Angst heute? Wie sind Härte,
Kompromisslosigkeit und Radikalität gealtert? Was ist geworden aus den
rausgebrüllten Tiraden gegen „consumer fascism“ und „barbarischen
Kapitalismus“? Der historische Stellenwert der Pop Group ist unbestritten,
aber will ich mir das wirklich noch mal anhören?
Vier Vinylschallplatten in schwarzer Box, auf dem Cover glänzt blutrot der
Buchstabe Y, gesprochen „Why“. Wie jenes „Why“ auf dem berüchtigten
Protestplakat gegen den Vietnamkrieg, das einen tödlich getroffenen
Vietcong zeigt und so basal wie naiv fragt: Warum?
Oder das „Why“ der meistgehassten Witwe des Pop: „Yoko Ono hat in den
Sechzigern ein Album namens ‚Why‘ gemacht, auf dem sie die ganze Zeit über
experimentelle Geräusche schreit, so ein Fluxus-Ding“, erzählt Stewart und
lacht sein dröhnendes Lachen, als hielte er es für einen tollen Witz, dass
einer wie er jemals auf einer Platte singen durfte. Mit Yoko Ono teilt die
Pop Group ein Faible für den Urschrei und den Status des kanonisierten
Klassikers, dem man nicht zu nahe kommen möchte.
Oder doch? „Closer“, das Abschiedsalbum von Joy Division, gelte als
Kronjuwel des Postpunk, schrieb der englische Kritiker Mark Fisher, aber
„Y“ sei, wenn auch unausgeformt, unvollendet, mindestens ebenso wichtig,
„the fire to Joy Division’s ice“. Das Feuer höre ich heute mehr als dama…
Stewarts Berserkerbrüllen, Gitarren, die in die Haut schneiden,
Messerwetzen, Saxofonsirenen, die ganze
Hören-muss-wehtun-Überwältigungsästhetik, das alles ist noch da. Aber auch:
Lebendigkeit, Soul, Schönheit gar. Attribute, die mir damals entgangen
waren, Attribute, die ich heute dem Schwarzen Mann im Boot zuschreiben
möchte, der für mich unsichtbar war, damals.
## Spooky und dissonant
Dennis Bovell, genannt Blackbeard, auf Barbados geboren, im Londoner Süden
gelandet, jamaikanisch sozialisiert, erfolgreich mit der Reggaeband
Matumbi, seit Jahrzehnten gefragter Produzent, von Dub Poet Linton Kwesi
Johnson bis zu den schottischen Wimps von Orange Juice. 1979 produziert
Bovell zwei Alben, deren Größe sich erst allmählich erweist: „Cut“ von d…
Slits, mit denen die Pop Group mehr verbindet als eine superbe
Split-Single, und eben „Y“.
Nach der einfältigen Farbenlehre liegt es nahe, Bovell den Credit zu geben
für alles, was irgendwie black schimmert bei der Pop Group. Der
unwiderstehliche Funk-Punk in „We are time“, das spooky (oder eerie)
dissonante Piano in „Snowgirl“, näher ist die Band einem Liebeslied nie
gekommen, da knistert das Feuer, besonders in der Duett-Version mit [4][Ari
Up von den Slits]. Der jamaikanische Echo-Space des Dub, in dem die
Schutt-und-Asche-Attacken der Band tatsächlich unmacho daherkommen (oder
nur ein bisschen).
Und der Bass, der Message ist, und Massage, der Bass, der die Musik erdet,
der das, was wohlmeinende Kritiker Free Jazz nennen, warm umhüllt, dubby
eben, was für ein schönes Wort. Was für ein schönes Wiederneuhören, „Y�…
ein Gründungsdokument britischer Bassmusik.
27 Dec 2019
## LINKS
[1] /Postpunk-Legende-The-Pop-Group/!5026451
[2] /Festival-Off-the-Page-in-Bristol/!5032071
[3] /Musikproduzent-Tricky-im-Interview/!5451757
[4] /Die-Saengerin-Ari-Up-ist-tot/!5133580
## AUTOREN
Klaus Walter
## TAGS
Postpunk
Re-Issue
Wiederveröffentlichung
Großbritannien
Bristol
HipHop
Folk
Schottland
Post-Punk
Punk
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