| # taz.de -- Pläne zur Wahlrechtsreform: Ampel spielt gefährliches Roulette | |
| > Klagen gegen die Abschaffung der Grundmandatsklausel könnten durchaus | |
| > Erfolg haben. Vermutlich würden sie aber eher der CSU nutzen als der | |
| > Linken. | |
| Bild: Hier steht ein Umbau an | |
| Berlin taz | Die Ampel geht voll ins Risiko. Schon am Freitag soll der | |
| Bundestag [1][das neue Wahlrecht] beschließen. Bei Abstimmungen in den | |
| Fraktionen stimmten am Dienstagnachmittag die Abgeordneten von Grünen und | |
| FDP jeweils einstimmig und die der SPD mit überwältigender Mehrheit zu. Das | |
| teilten die Fraktionschefs Rolf Mützenich (SPD), Britta Haßelmann (Grüne) | |
| und Christian Dürr (FDP) im Anschluss an die Sitzungen mit. Sie | |
| bezeichneten die Reform, durch die der auf 736 Abgeordnete angewachsene | |
| Bundestag auf 630 Mandate verkleinert wird, als „fair und | |
| verfassungsgemäß“. | |
| Linke und CSU haben bereits Verfassungsklagen angekündigt. Vor allem wegen | |
| der kurzfristig gestrichenen Grundmandatsklausel könnten Klagen beim | |
| Bundesverfassungsgericht Erfolg haben. Selbst der SPD-nahe Rechtsprofessor | |
| Franz Mayer spricht von „Wahlrechts-Roulette“. | |
| Akzeptiertes Ziel der Reform ist die [2][Verkleinerung des Bundestags.] | |
| Umstritten sind aber die geplanten Mittel der Ampel. Damit keine | |
| Überhangmandate mehr entstehen, soll jede Partei nur noch so viele Sitze | |
| bekommen, wie ihrem Zweitstimmergebnis entspricht. Die Wahlkreissieger mit | |
| den niedrigsten Prozentanteilen gehen deshalb leer aus. Dagegen | |
| protestierten CDU/CSU schon seit Monaten. Es verstoße gegen das | |
| Demokratieprinzip, dass der Erststimmensieger im Wahlkreis kein Mandat | |
| erhalte. Überhangmandate haben bisher vor allem CDU/CSU und SPD erhalten. | |
| Deren Wegfall [3][betrifft alle Parteien], weil es auch keine | |
| Ausgleichsmandate mehr gibt. | |
| Erst seit wenigen Tagen ist bekannt, dass die Ampel auch die | |
| Grundmandatsklausel streichen will. Parteien, die die Fünfprozenthürde | |
| verfehlen, können trotzdem entsprechend ihrem Wahlergebnis in den Bundestag | |
| einziehen, wenn sie mindestens drei Direktmandate geholt haben. | |
| ## Bartsch kündigte Verfassungsklage an | |
| Davon profitiert derzeit die Linke, die mit 4,9 Prozent der Stimmen dank | |
| dreier Direktmandate doch mit 39 Abgeordneten im Bundestag vertreten ist. | |
| Fast wäre auch die CSU mit bundesweit 5,2 Prozent der Stimmen auf die | |
| Grundmandatsklausel angewiesen gewesen. Gegen den Wegfall dieser Klausel | |
| wettern daher vor allem Linke und CDU/CSU. Linke-Fraktionschef Dietmar | |
| Bartsch sprach von einem „brutalen Angriff auf die Linke“. Bayerns | |
| Ministerpräsident Markus Söder (CSU) warnte vor einer „Attacke auf die | |
| Demokratie“. CDU/CSU-Fraktions-Chef Friedrich Merz sprach von „Manipulation | |
| des Wahlrechts“. | |
| Bartsch kündigte bereits eine Verfassungsklage an. Auch Söder drohte damit. | |
| Er bräuchte dazu nur die bayerische Landesregierung. Die CDU/CSU-Fraktion | |
| im Bundestag will erst später über eine Verfassungsklage entscheiden. | |
| Grundsätzlich hat der Gesetzgeber im Wahlrecht relativ viel | |
| Gestaltungsspielraum. Im Grundgesetz steht nicht, nach welchem Wahlsystem | |
| der Bundestag gewählt werden soll. | |
| Das Bundesverfassungsgericht zog daraus den Schluss, dass der Bundestag bei | |
| der Festlegung des Wahlsystems auch ganz mit den bisherigen Traditionen | |
| brechen kann. So könnte er zum Beispiel nach englischem System eine | |
| Mehrheitswahl einführen, bei der nur noch die Wahlkreisgewinner:innen | |
| ein Mandat erhalten. Er könnte aber auch ein reines Verhältniswahlrecht | |
| vorschreiben, bei dem es keine Wahlkreise mehr und nur noch Parteilisten | |
| gibt. | |
| Dass auch Mischformen zulässig sind, hat das Bundesverfassungsgericht 2012 | |
| ausdrücklich festgehalten. In der Aufzählung zulässiger Wahlformen findet | |
| sich auch „eine Erstreckung des Verhältniswahlprinzips auf die gesamte | |
| Sitzverteilung unter angemessener Gewichtung der Direktmandate“. Das ist | |
| ungefähr das, was die Ampel im Kern plant. Nach ihrem Plan wäre für den | |
| Wahlkreisgewinner zwar kein Mandat garantiert, letztlich würden aber wohl | |
| nur ein, zwei Dutzend Wahlkreisgewinner leer ausgehen. Mit dieser Reform | |
| hätte die Ampel das Bundesverfassungsgericht wohl nicht fürchten müssen. | |
| Anders dürfte es beim Wegfall der Grundmandatsklausel aussehen. Das | |
| Argument der Ampel, dass die Klausel ein „Systembruch“ sei, dürfte | |
| Karlsruhe nicht überzeugen. Vielmehr hat das Bundesverfassungsgericht die | |
| Grundmandatsregelung 1997 ausdrücklich gebilligt. Schließlich könnten so | |
| „besondere Anliegen“ der Wähler berücksichtigt und integriert werden. Dam… | |
| war zwar nur gesagt, dass die Grundmandatsklausel zulässig, also nicht | |
| verfassungswidrig ist. | |
| Doch das Bundesverfassungsgericht achtet auf die Akzeptanz der Demokratie | |
| und auch seiner Urteile. Es ist nur schwer vorstellbar, dass das Gericht | |
| eine Regelung akzeptiert, bei der die CSU in Bayern zwar in 45 Wahlkreisen | |
| die meisten Stimmen holt, am Ende aber keine:n einzigen | |
| Bundestagsabgeordnete:n erhält, weil sie bundesweit nur 4,9 Prozent | |
| der Stimmen erhielt. Um das zu verhindern, könnte Karlsruhe eine | |
| Grundmandatsklausel als notwendiges Korrektiv für die wahlverzerrende | |
| Fünfprozenthürde vorschreiben – zwar sicher nicht ab 3 Direktmandaten, aber | |
| zum Beispiel ab 15 gewonnenen Wahlkreisen. Klagen könnten also eher der CSU | |
| nutzen als der Linken. | |
| 14 Mar 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Christian Rath | |
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