| # taz.de -- Parteitag der Grünen: Gut kontrollierte Lockerheit | |
| > Die Parteispitze der Grünen pflegt drei Mythen: Man sei streitlustig, | |
| > entspannt und radikal. Die Wirklichkeit sieht anders aus. | |
| Bild: Die Grünen, denken viele, seien in besonderer Weise radikal | |
| Annalena Baerbock und Robert Habeck sind unbestritten ein großes Glück für | |
| die Grünen. Die beiden Vorsitzenden, die sich am Samstag auf dem Parteitag | |
| in Bielefeld erneut zur Wahl stellen, machen vieles richtig. Sie reden kaum | |
| über ihre WettbewerberInnen, umso mehr aber über eigene Konzepte. Sie | |
| begreifen die Grünen nicht als Milieu- sondern als Bündnispartei, die alle | |
| BürgerInnen adressiert. Ihre Sprache ist einladend, nicht ausgrenzend. | |
| Dieses Konzept ist selbstbewusst, attraktiv und zu Recht erfolgreich. | |
| Baerbock und Habeck haben jetzt schon eine neue Grünen-Ära begründet. Zur | |
| Wahrheit gehört aber auch: Ihr Erfolg beruht auf drei Mythen, die von der | |
| Grünen-Spitze sorgsam gepflegt werden, aber mit der Wirklichkeit nichts zu | |
| tun haben. | |
| Der erste Mythos lautet: Die Grünen seien in besonderer Weise streitlustig. | |
| Der Parteispitze ist dieses Image sehr recht. Es klang in einer komplexer | |
| werdenden Welt nur zeitgemäß, als Habeck nach seiner Wahl versprach, die | |
| Grünen wollten sich „den Streit zumuten“. Ja, er sei geradezu dankbar für | |
| Streit. Das ist eine hübsche Erzählung, doch das Verhältnis der | |
| Grünen-Spitze zum Streit ist ein instrumentelles. | |
| Sie erlaubt ihn dort, wo er nutzt, dimmt ihn aber herunter, wo er schaden | |
| könnte. Der Vorstand erfindet nach einer [1][hitzigen Homöopathie-Debatte] | |
| lieber in einer Kommission die Wissenschaft neu, als die Delegierten über | |
| die Kassenfinanzierung abstimmen zu lassen. Immer frei nach dem Motto: Bist | |
| du auf Streit nicht heiß, gründe einen Arbeitskreis. | |
| ## Modern und unangestrengt | |
| Stattdessen werden Detailfragen beim Mindestlohn zur Kampfabstimmung auf | |
| dem Parteitag hochgejazzt, weil die Grünen die Aufmerksamkeit der Medien | |
| auf die Sozialpolitik lenken wollen. Die Streitlust der Grünen ist also vor | |
| allem eine Inszenierung, ihr fehlt das Spontane, Ergebnisoffene, das echten | |
| Streit auszeichnet. | |
| Der zweite Mythos besteht darin, dass die Grünen in besonderer Weise als | |
| entspannt oder lässig gelten. Baerbocks und Habecks Performance ist auch | |
| deshalb so erfolgreich, weil sie so modern und unangestrengt wirkt. Fotos | |
| der gut gelaunten, locker posierenden ChefInnen finden sich in Archiven | |
| ohne Zahl, und der Vorsitzende springt nach einem Wahlerfolg auch mal von | |
| der Bühne in die Hände seiner Fans. | |
| Dahinter verbirgt sich ein beinhartes Presseregime, das manchmal in einen | |
| leichten Kontrollzwang ausartet. Interviews werden in der Autorisierung | |
| freihändig umgeschrieben, jede Silbe wird verhandelt. Abgeordnete, die von | |
| JournalistInnen angerufen werden, fragen lieber erst beim Vorstand an, um | |
| zu erfahren, wieviel und welche Kritik erlaubt sei. | |
| Was bei den Grünen spontan daher kommt, ist also kühl kalkuliert. | |
| Lockerheit und Angestrengtheit gehen Hand in Hand. Mit dieser Dialektik | |
| passen die Grünen perfekt ins Instagram-Zeitalter. Hinter den bunten, | |
| vermeintlich authentischen Schnappschüssen steckt ja in der Regel eine | |
| sorgfältige und zeitaufwändige Regie. | |
| ## Komplett anschlussfähig an konservativ-liberale Politik | |
| Der dritte Mythos schließlich ist der Wichtigste: Die Grünen, denken viele, | |
| seien in besonderer Weise radikal. Baerbock und Habeck haben die Formel | |
| „Radikal ist das neue Realistisch“ erfunden, um ihre Politik zu | |
| beschreiben. | |
| Nun, die Grünen sind alles, aber nicht radikal. Der CO2-Preis von 40 Euro | |
| pro Tonne, den sie fordern, bleibt hinter dem zurück, was Wissenschaftler | |
| für nötig halten. Wenn es um eine neue Reichtumsverteilung geht, ein Feld, | |
| das für die Union sakrosankt ist, flüstern sie lieber, als laut Ansprüche | |
| anzumelden. Und der wirtschaftspolitische Leitantrag des Bundesvorstands | |
| [2][feiert Markt und Wachstum], um die ökologische Revolution zu schaffen. | |
| Das ist komplett anschlussfähig an konservativ-liberale Politik – | |
| vielleicht wird das irgendwann sogar Christian Lindners FDP verstehen. | |
| Damit keine Missverständnisse aufkommen: Kontrolle, Streitunterdrückung und | |
| Mainstreamtauglichkeit sind nicht abwegig, wenn man mehrheitsfähig werden | |
| will. Die Grünen schaffen es, ein frisches Image aufrecht zu erhalten, | |
| obwohl sie ein hochprofessioneller Apparat sind. So sprechen sie jene an, | |
| die sich echte Veränderungen wünschen. | |
| ## Veränderungswunsch ist kleiner als angenommen | |
| Aber sie adressieren auch eine verbreitete Gefühlslage in der gestressten | |
| Mittelschicht. Man gibt sich gerne offen für Neues. Aber eigentlich ist man | |
| froh, das Leben zwischen Job, Supermarkt und Elternabend ohne größere | |
| Verwerfungen geregelt zu kriegen. | |
| Der reale Veränderungswunsch ist also bei vielen kleiner als der | |
| empfundene. Die Grünen liefern das dazu passende Versprechen: Ihr dürft so | |
| bleiben, wie ihr seid – und wir kriegen es trotzdem hin mit dem | |
| Klimawandel. | |
| 15 Nov 2019 | |
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| Ulrich Schulte | |
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