| # taz.de -- Parlamentswahlen in Frankreich: Rückkehr nach Réunion | |
| > Auf La Réunion sind im ersten Gang der französischen Parlamentswahlen nur | |
| > wenige wählen gegangen. Das liegt auch am Verhältnis zum Mutterland. | |
| Bild: Vulkaninsel im Indischen Ozean: La Réunion, Teil von Frankreich, der sü… | |
| Am Ortseingang der Hauptstadt empfängt uns ein zweisprachiges Schild: oben | |
| „Saint-Denis“, darunter in Kreol „Sin Dni“. Seit 2010 steht das hier so, | |
| nachdem der Magistrat eine Charta zur Förderung der Zweisprachigkeit | |
| verabschiedet hat. „Seitdem kann man auf Kreol heiraten oder im Stadtrat | |
| Kreol sprechen“, freut sich Axel Gauvin, Schriftsteller und Vorsitzender | |
| des Vereins Lofis la lang kréol la rényon. In den letzten zehn Jahren haben | |
| 11 der 80 der Gemeinden auf La Réunion die Charta übernommen. „Es ist ein | |
| Beitrag zur Redefreiheit, ein kleiner Schritt hin zu mehr Demokratie“, | |
| erklärt Gauvin, der vor über vierzig Jahren das Referenzwerk dazu verfasst | |
| hat. | |
| Die Sonne scheint auf die große Wandtafel im sparsam möblierten | |
| Vereinslokal. Unter zweisprachig beschrifteten Fotos wird die traditionelle | |
| Bauweise auf der Insel erklärt. Am Eingang wechselt ein Gärtner ein paar | |
| Worte auf Kreol mit einer Mitarbeiterin von der Touristeninformation. | |
| Gegenüber diskutiert eine Gruppe Arbeiter an einem Imbisstisch. Selbst | |
| Neuankömmlinge wie wir können ein wenig von ihrem Gespräch verstehen: Hier | |
| im Norden ähnelt das Kreol dem Französischen mehr als der im Süden | |
| gesprochene Dialekt. | |
| Nur 10 Prozent der Bevölkerung von La Réunion sprechen ausschließlich | |
| Französisch, alle anderen benutzen im Alltag beide Sprachen oder nur Kreol. | |
| Über 80 Prozent bezeichnen heute Kreol als ihre Muttersprache, es ist damit | |
| die größte Regionalsprache Frankreichs. Dabei war sie lange | |
| gesellschaftlich verpönt. Als die Kolonie 1946 französisches | |
| Übersee-Département wurde, „ging das mit einer Assimilierungspolitik | |
| einher, Kreol war als Sprache nicht anerkannt“, erklärt der | |
| Grundschullehrer Guillaume Aribaud, während er den Stuhlkreis für das | |
| Morgenritual aufstellt, mit dem er seine Fünfjährigen auf Kreol begrüßt. | |
| „Heute hört man es immer öfter auch in der Öffentlichkeit. Aber die | |
| Stigmatisierung wirkt noch stark nach.“ | |
| Wie vielen seiner Landsleute wurde sich der junge Regisseur Sébastien Clain | |
| erst im Ausland seiner Herkunft bewusst und hat darüber den Dokumentarfilm | |
| „Kisa nou lé“ (Wer wir sind) gedreht: „Erst als ich zum Studium wegging, | |
| fing ich an, mich für die Geschichte meiner Insel zu interessieren“, | |
| erzählt Clain. „Ich glaube, ich habe mich erst in dem Moment neu entdeckt, | |
| als ich 10 000 Kilometer von zu Hause entfernt lebte. Das Buch von Axel | |
| Gauvin half mir, mich mit meiner Kultur zu versöhnen, denn es zeigte mir, | |
| woher die Scham kommt, die ich empfand, wenn ich meine Sprache sprach.“ | |
| ## Stipendien für Studium und Ausbildung in Frankreich | |
| Jedes Jahr verlassen etwas mehr als 2000 Studierende, also 20 Prozent eines | |
| Abi-Jahrgangs, die Insel – mit finanzieller Unterstützung des | |
| Départements und der Region (auf La Réunion fallen beide Körperschaften in | |
| eins). Das Büro für Überseemobilität (L’agence de l’outre-mer pour la | |
| mobilité, Ladom) zahlt das Flugticket für junge Menschen unter 26, die in | |
| der französischen Métropole (Mutterland) oder einem anderen Département | |
| d’outre-mer (Dom) studieren wollen, weil sie entweder keinen Platz in ihrem | |
| Wunschfach bekommen haben – Soziale Arbeit und Alternativmedizin sind | |
| besonders begehrt – oder weil es nicht angeboten wird, wie Politologie, | |
| Psychologie oder Agrarwissenschaften. Ladom vergibt auch Studienstipendien, | |
| mit einer maximalen Laufzeit von fünf Jahren und bis zu 4600 Euro jährlich. | |
| Zahlreiche weitere Programme unterstützen junge Leute, die in Frankreich | |
| eine Ausbildung machen oder eine Stelle antreten wollen. | |
| Demografie und Arbeitslosigkeit sind die beherrschenden Themen auf La | |
| Réunion. Auch wenn in den letzten zwanzig Jahren mehr Arbeitsplätze | |
| geschaffen wurden, ist die Arbeitslosenquote auf der Insel doppelt so hoch | |
| wie im Mutterland. 2019 betrug die Jugendarbeitslosigkeit 40 Prozent. Von | |
| allen französischen Regionen hat La Réunion den höchsten Anteil an unter | |
| 25-Jährigen. Deshalb setzt der Staat ihnen schon seit Langem Anreize, die | |
| Insel zu verlassen. | |
| 1963 wurde das Migrationsbüro für die Übersee-Départements (Bumidom) | |
| gegründet, mit dem das „Gebot der Auswanderung“ nach Frankreich in Zeiten | |
| des Arbeitskräftebedarfs offiziell verankert wurde. Michel Debré hatte sich | |
| das damals ausgedacht. Nach seinem Rücktritt als Ministerpräsident | |
| Frankreichs wurde er 1963 Abgeordneter von La Réunion. In einer von | |
| Manipulationsvorwürfen überschatteten Wahl hatte der Gaullist Debré, der | |
| keinerlei familiäre Beziehungen zu der Insel hatte, Paul Vergès | |
| ausgestochen, den Vorsitzenden der Kommunistischen Partei von La Réunion, | |
| der für die Unabhängigkeit der Insel eintrat. | |
| ## Zweitausend zwangsverschickte Kinder | |
| Zwischen 1963 und 1981 unterstützte der französische Staat über das Bumidom | |
| 160 300 Auswanderer von Réunion und den französischen Antillen bei ihrer | |
| Umsiedlung nach Europa. In dieser Zeit wurden auch über 2000 Kinder, die | |
| sich in der Obhut der Jugendhilfe (ASE) befanden, zwangsweise nach | |
| Frankreich verschickt. Mehrere Opfer klagten später wegen „Entführung“ | |
| gegen den französischen Staat. Die Gerichtsverfahren wurden jedoch in den | |
| nuller Jahren eingestellt, weil man Präzedenzfälle fürchtete. Bis heute | |
| haben Opfer und Selbsthilfevereine weder individuelle noch kollektive | |
| Entschädigung erhalten. | |
| „Diese Politik war damals die Antwort auf drei soziale Probleme“, schreibt | |
| die Soziologin Lucette Labache: im Übersee-Département das rasante | |
| Bevölkerungswachstum sowie Massenarbeitslosigkeit und die damit | |
| einhergehende Furcht vor politischen Forderungen, und in Frankreich der | |
| Arbeitskräftemangel in Krankenhäusern, bei der Post, in der | |
| Telekommunikation und im öffentlichen Verkehr. In einer Zeit, in der | |
| manche die Unabhängigkeit forderten, die Algerien kurz zuvor erlangte | |
| hatte, fungierte die Auswanderung als „Sicherheitsventil“, schrieb der | |
| Geograf und Gründer der Sozialistischen Partei von La Réunion, Wilfrid | |
| Bertile, 1972. | |
| Nach dem Aufstand im Chaudron-Viertel von Saint-Denis 1991 begannen die | |
| Behörden, mehr auf Mobilität statt auf Auswanderung zu setzen. „Mobilität�… | |
| klang viel positiver und war mit weniger negativen Assoziationen behaftet. | |
| Das Bumidom wurde in Nationale Agentur zur Eingliederung und Förderung | |
| von Arbeitnehmenden aus Übersee (ANT) umbenannt, bis es 2010 seinen | |
| heutigen Namen Ladom bekam. | |
| Auf riesigen Plakatwänden stand damals der Slogan: „Eine Ausbildung dort, | |
| eine Zukunft hier“. Verantwortlich dafür war eine andere Dienststelle, die | |
| es nur auf La Réunion gibt und die Debré ebenfalls 1963 erfand: das | |
| Nationale Aufnahme- und Aktionskomitee für mobile Réunioner (Cnarm). Es | |
| wird zum Teil vom Département finanziert und bietet Aus- und | |
| Weiterbildungen für gering oder nicht qualifizierte Arbeitskräfte in | |
| Gastronomie, Baugewerbe und Verkehrswesen in Frankreich. Zwischen 2015 und | |
| 2019 nahmen 11 084 Arbeitssuchende am Cnarm-Programm teil, das sich rühmt, | |
| „bei den Eingliederungsmaßnahmen die Arbeitnehmermobilität zur obersten | |
| Priorität erhoben“ zu haben. | |
| ## „Ich hatte das Gefühl, mein Land zu verraten“ | |
| Doch haben die Betroffenen überhaupt eine Wahl? „Meine Mutter hat in | |
| Pariser Krankenhäusern gearbeitet, mein Vater ging zur Bahn, meine Tanten | |
| gingen zur Polizei. Sie sind über das Bumidom fortgegangen, wir nehmen das | |
| Cnarm“, erzählt Olivya Aliks mit verbittertem Unterton. „Ich habe vier | |
| Jahre in Paris studiert und hatte das Gefühl, mein Land zu verraten“, sagt | |
| sie. | |
| Annecie Boyer ging mit 17 Jahren nach Rennes, um Germanistik zu studieren, | |
| ein Fach, das auf der Insel nicht angeboten wird: „Ich bin die Einzige aus | |
| meiner Familie, die studiert hat. Meine beiden großen Brüder wollten immer | |
| da bleiben, einer wurde Fischer und Feuerwehrmann, der andere Koch. Schon | |
| auf der weiterführenden Schule habe ich begriffen, dass ich nach Frankreich | |
| gehen muss, wenn ich Karriere machen will.“ Diese Erfahrung teilen viele | |
| junge Menschen, sagt die Soziologin Florence Ihaddadene, die an der | |
| Université de Picardie Jules Verne in Amiens unterrichtet: „Von den Schulen | |
| über die Vereine bis zum Jobcenter erklären alle Institutionen den jungen | |
| Menschen aus Réunion, wie sie sich auf internationale Mobilität vorbereiten | |
| können.“ | |
| Nicolas Brun, mit einem Vater aus der Métropole und einer Mutter von La | |
| Réunion, ging nach dem Abitur 2020 ein Jahr auf die Ingenieurschule nach | |
| Angers: „Im Lycée kamen ständig Leute von außerhalb, die uns | |
| Ausbildungsgänge in Frankreich oder Québec vorgestellt haben“, berichtet | |
| er. „Man hat uns den Traum von einer anderen Welt verkauft.“ Inzwischen | |
| lebt der junge Mann wieder in seiner Heimatgemeinde Tampon und erzählt, | |
| dass heutzutage viele junge Leute zurückkommen, „um sich mit ihrer Kultur | |
| zu versöhnen“. | |
| ## Angst, die Muttersprache zu sprechen | |
| In der Gemeinde Port, 20 Kilometer von Saint-Denis entfernt, steht | |
| Stéphane Marcy mit seiner Grundschulklasse vor einem blühenden | |
| Flammenbaum. „Als ich jung war, hat man mir Geschichten von Weihnachten im | |
| Schnee und Schneemännern erzählt“, erinnert er sich. „Das Problem dabei | |
| war: Diese Dinge wurden als allgemeingültig hingestellt, dabei hatte das | |
| überhaupt nichts mit unserer Lebensrealität zu tun. Wie kann man ein Bild | |
| von sich selbst entwerfen, wenn einem nur das westliche Modell zur | |
| Verfügung steht?“ | |
| Seit 2014 gehört der 38-Jährige zu den 5 Prozent ausgebildeter Lehrkräfte, | |
| die Kreol unterrichten dürfen. Als Sekretär des Vereins Lantant LKR (La | |
| Lang la kiltir kréol dann lékol) setzt sich Marcy dafür ein, dass seine | |
| Kreol sprechenden Schüler:innen nicht benachteiligt werden: „Heute | |
| schlägt man ein Kind zwar nicht mehr, wenn es in der Schule Kreol spricht, | |
| aber eine Lehrkraft ohne Fachqualifikation wird es auffordern, ‚richtig zu | |
| sprechen‘. Ich habe das selbst erlebt. Französisch war nicht meine | |
| Muttersprache, deshalb hatte ich Angst, etwas zu sagen. Auch wenn ich mich | |
| als guter Schüler am Ende angepasst habe, ist die Unsicherheit immer | |
| geblieben.“ | |
| Seit der Revolution habe Frankreich die sprachliche Einheit zum | |
| Grundpfeiler der nationalen Einheit erhoben, erklärt Véronique Bertile, | |
| Wilfrid Bertiles Tochter, die an der Universität Bordeaux Öffentliches | |
| Recht lehrt und über Regionalsprachen in Frankreich, Spanien und Italien | |
| promoviert hat: „Dieses engstirnige Jakobinertum betrachtete regionale | |
| Sprachen und Identitäten lediglich als separatistische Bedrohungen.“ | |
| Guillaume Aribaud kennt das Problem. Sein Vater kam aus Okzitanien, seine | |
| Mutter war eine Pied-noir aus Tunesien, er selbst wurde in Saint-André an | |
| der Ostküste von Réunion geboren, in einer der ärmsten Kommunen | |
| Frankreichs. Heute ist der 30-Jährige selbst Grundschullehrer – eine Art | |
| Revanche: „Auf dem Collège erklärten uns die Lehrer, Kreol sei ein nicht | |
| ausgereiftes Französisch. Das ist doch absurd. Unsere Sprache existiert, | |
| und sie lebt weiter, und in dem Viertel, in dem ich unterrichte, können wir | |
| mithilfe des Kreol die vielen Kinder integrieren, die von den Komoren oder | |
| Mayotte hierherkommen“, erzählt er. | |
| ## Kreol endlich ganz normale Unterrichtssprache | |
| Das Kreol, eine lange geächtete Sprache, die im 18. Jahrhundert ihre | |
| Wurzeln hat, erfährt immer mehr Akzeptanz als Unterrichtsfach, von den | |
| Eltern wird es teilweise sogar eingefordert: In einer aktuellen Umfrage | |
| sprachen sich 81 Prozent „für Kreol in der Schule“ aus, 2009 waren es noch | |
| 61 Prozent. 85 Prozent meinten, Kreol sei eine Sprache, genauso wie | |
| Französisch; das glaubten 2009 erst 74 Prozent. Im Jahr 2000 wurde Kreol | |
| als „offizielle Regionalsprache“ anerkannt und seit Einführung der | |
| Lehramtsprüfung für die Sekundarstufe (Capes) 2001 an den Collèges immer | |
| häufiger als Zusatzfach angeboten. In der Primarstufe sind derzeit jedoch | |
| nur 450 der 8000 Lehrkräfte als Kreol-Lehrer:innen ausgebildet. | |
| Francky Lauret begann als Dichter, wurde dann Journalist und mit 42 Jahren | |
| erster staatlich geprüfter Lehrer für Kreol: „Die Klischees gibt es immer | |
| noch, aber die sogenannte Diglossie, also die Ausdifferenzierung in Hoch- | |
| und Volkssprache, entwickelt sich weiter. Wenn die Bürgermeisterin von | |
| Saint-Denis ihre Reden auf Kreol hält, ich meine Dissertation auf Kreol | |
| verteidigen durfte und an der Rathaustür ein Schild hängt: ‚Mi koz creol‘ | |
| [‚Hier wird Kreol gesprochen‘], dann merkt man, dass wir heute wirklich | |
| frei sprechen können.“ | |
| In den Bildungseinrichtungen sieht man das genauso. Die neue Schulsenatorin | |
| Chantal Manès-Bonisseau hat seit August 2020 das Lehrangebot für | |
| Landesgeschichte an den Collèges und Lycées erheblich erweitert und | |
| unterstützt die Auffassung, dass die Sprachen sich gegenseitig befruchten. | |
| Wer gut Kreol kann, lernt auch leichter Französisch. Paradoxerweise | |
| profitiert die Anerkennung der Sprache von der Entpolitisierung des Themas. | |
| In den 1950er Jahren gehörte bei den Kommunisten der Kampf um Kultur und | |
| Sprache und der Kampf für Autonomie beziehungsweise Unabhängigkeit | |
| untrennbar zusammen, berichtet Aribaud, der auch beim Verein Lantant LKR | |
| mitmacht. Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Die seit 2021 amtierende | |
| Regionalpräsidentin, Ex-Kommunistin Huguette Bello, arbeitet einvernehmlich | |
| mit der eher konservativen Département-Verwaltung zusammen. Auf dem Forum | |
| der Mehrsprachigkeit (États généraux du multilinguisme), das im Oktober | |
| 2021 auf der Insel stattfand, einigten sich beide Körperschaften auf ein | |
| Abkommen, das auch die gesellschaftliche Bedeutung des Kreol anerkennt. | |
| ## Gelbwesten-Proteste auf der Insel | |
| Als es Ende 2021 in den Übersee-Départements Guadeloupe und Martinique zu | |
| wochenlangen Protesten gegen die französische Zentralregierung kam, schlug | |
| der junge Minister für die Überseegebiete Sébastien Lecornu (La République | |
| en Marche) eine öffentliche Debatte über die Autonomie der Gebiete vor. In | |
| Réunion steht dieses Thema gar nicht mehr auf der Tagesordnung – dazu fühlt | |
| man sich trotz der erheblichen sozialen Probleme immer noch zu sehr mit | |
| Frankreich verbunden. | |
| Für Erstaunen sorgten jedoch die Gelbwesten-Proteste auf der Insel. „Es | |
| gibt diesen tief verankerten Glaubenssatz, dass unsere Insel dem Vorbild | |
| einer Republik folgt, in der die Konflikte befriedet sind und das Volk sich | |
| nicht erhebt, weil es gelernt hat, zusammenzuleben“, erklärt die von | |
| Réunion stammende Historikerin Françoise Vergès. „Diese Vorstellung beruht | |
| zu gleichen Teilen auf Mythos und Wirklichkeit“, fährt sie fort und | |
| verweist auf die Besiedlungsgeschichte der Insel, die bis 1646 unbewohnt | |
| war. Über die Jahrhunderte haben sich hier Menschen aus verschiedenen | |
| europäischen und afrikanischen Ländern sowie Indien und China | |
| niedergelassen und Familien gegründet. | |
| Der für die Karibik so typische Gegensatz zwischen Schwarzen und Weißen sei | |
| auf La Réunion nicht anwendbar, erklärt der Soziologe Philippe Vitale. Auf | |
| den Antillen hat die Spaltung zwischen den Békés, den reichen | |
| Großgrundbesitzern mit weißen Vorfahren, und der schwarzen | |
| Mehrheitsbevölkerung zu heftigen Auseinandersetzungen geführt. Und während | |
| der karibische Autor Aimé Césaire (1913–2008) weltberühmt ist, kennen nur | |
| Eingeweihte den Dichter, Sprachwissenschaftler und réunionischen Aktivisten | |
| Boris Gamaleya. „Die einheimische Mittelklasse, die nicht nur aus | |
| Kontinentalfranzosen, sondern auch aus Réunionern bestand, hat dazu | |
| beigetragen, das Kreol zu unterdrücken und die Forderungen nach | |
| gesellschaftlicher und kultureller Unabhängigkeit auszulöschen“, erklärt | |
| Françoise Vergès. | |
| ## Zuzug aus der Métropole | |
| „Willkommen in Zoreyland“, witzeln die Leute in Anspielung auf die | |
| „Zoreilles“ genannten Französinnen und Franzosen aus Europa, die in den | |
| Hotels von Saint-Gilles absteigen. In den Ferien tummeln sich in dem | |
| Hauptbadeort der Insel, 35 Kilometer südwestlich von Saint-Denis, doppelt | |
| so viele Kontinentalfranzosen wie in Saint-André im Osten und fünfmal mehr | |
| als in Salazie im Landesinneren. Die Insel ist attraktiv. Während zwischen | |
| 2012 und 2016 durchschnittlich 11 400 Menschen pro Jahr La Réunion Richtung | |
| Frankreich verlassen haben, nahmen in demselben Zeitraum 10 300 Menschen, | |
| darunter 3000 Rückkehrer, den umgekehrten Weg: Beamtinnen, Unternehmer, | |
| Freiberuflerinnen und leitende Angestellte großer französischer Firmen. | |
| Gegen den Zuzug aus der Métropole gibt es regelmäßig Proteste, weil die | |
| meisten Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge nach wie vor von | |
| Kontinentalfranzosen geleitet werden. Das verändert sich langsam: Ende 2020 | |
| kamen von insgesamt 31 000 leitenden Angestellten 47 Prozent von der Insel, | |
| 1990 waren es noch 33 Prozent. | |
| Bei den Selbstständigen stellen Kreol:innen allerdings nur ein Drittel | |
| (19 Prozent der Mediziner und Zahnärztinnen stammen von der Insel) und | |
| besetzen lediglich 34 Prozent der Führungspositionen. „Die Eingliederung in | |
| den Arbeitsmarkt geht immer noch mit einem Prozess des ‚Weißwaschens‘ | |
| einher, das heißt, man muss seine Herkunft verleugnen“, berichtet der | |
| Vereinssekretär von Lantant LKR. | |
| Nicolas Brun erzählt, er fürchtet sich schon heute vor dem Moment, in dem | |
| er beim Vorstellungsgespräch einem „Métro“ gegenüber sitzt: „Ich kenne… | |
| viele Beispiele aus meinem Umfeld, wo bei gleicher Qualifikation nie der | |
| Réunioner die Stelle bekommen hat“. Der 19-Jährige wusste schon immer, dass | |
| er nach dem Studium zurückkehren wollte. Auch wenn nach wie vor viele die | |
| Insel verlassen, berufen sich immer mehr auf ihr Recht, „im Land zu leben | |
| und zu arbeiten“. | |
| ## Neue Rückkehroptionen? | |
| Die Rückkehroption wurde in der Mobilitätspolitik lange nicht | |
| berücksichtigt, doch auch das ändert sich gerade. „Mobilität ist ein | |
| Lebensmodell, aber auch das beste Mittel sich zu bilden, Erfahrungen zu | |
| sammeln und seine Kompetenzen zu erweitern, um selbstbewusst und stark | |
| zurückzukehren“, verkündete der Département-Präsident Cyrille Melchior an | |
| der Seite des Cnarm-Chefs im September 2018 in einer Rede. | |
| Mit der Rückkehroption stelle sich aber auch die schwierige Frage nach der | |
| regionalen Bevorzugung, der préférence régionale, meint Véronique | |
| Bertile. „Dieser Begriff ist allerdings heikel, deshalb spreche ich lieber | |
| von einer Priorisierung des lokalen Arbeitsmarkts“, erklärt die Juristin | |
| und meint damit natürlich trotzdem, dass Einheimische bevorzugt werden, | |
| wenn auf der Insel eine Stelle neu geschaffen oder besetzt wird. „Das ist | |
| ein konkretes Werkzeug zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“, sagt Bertile. | |
| Nach EU-Recht erlaube die isolierte Lage und das relativ kleine Territorium | |
| solche Sondermaßnahmen, die in Neukaledonien oder Französisch-Polynesien | |
| bereits umgesetzt werden. | |
| Da es lange nur eingeschränkt akademische Ausbildungsangebote auf der Insel | |
| gab, mussten entweder Kontinentalfranzösinnen und -franzosen eingestellt | |
| oder die Leute nach Frankreich geschickt werden. „Man setzt immer noch mehr | |
| Gelder dafür ein, die Réunioner aufs Festland zu holen, als hier vor Ort | |
| ein echtes Angebot zu schaffen“, klagt die Abgeordnete Karine Lebon. Seit | |
| einem Jahr kämpft die ehemalige Grundschullehrerin für die Einrichtung von | |
| Studiengängen, deren Absolvent:innen auf der Insel besonders gefragt | |
| sind: Nachhaltige Landwirtschaft, Agrarwissenschaften, Biodiversität und | |
| Tropische Ökologie. | |
| ## Stärkere wirtschaftliche Integration der Überseegebiete? | |
| Seit 2015 liegt auch das Projekt eines „Lycée de la mer“ in der Schublade, | |
| doch die Genehmigung der Region fehlt weiterhin. Wer sich für maritime | |
| Fächer interessiert, hat im Augenblick nur zwei Möglichkeiten: sich an der | |
| Seemannsschule in Port zur Matrosin oder zum Matrosen ausbilden lassen oder | |
| nach Le Havre, Marseille oder Südafrika gehen, um sich für andere Berufe in | |
| der Fischerei oder im Tourismus ausbilden zu lassen. | |
| „Das Problem ist nicht die Mobilität an sich“, meint Aribaud. „Unsere | |
| gesamte Entwicklung war immer vollständig auf den europäischen Kontinent | |
| ausgerichtet. Warum schauen wir nie auf die Länder, die auch am Indischen | |
| Ozean liegen?“ Ein Parlamentsbericht empfahl 2020 eine größere | |
| wirtschaftliche Integration der Überseegebiete in die umliegenden Märkte | |
| und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Häfen. | |
| Von der Straße, die durch den Park Tampon-Bel Air am Fluss Abord | |
| entlangführt, hat man ein atemberaubendes Rundum-Panorama bis hinauf zur | |
| Hochebene von Cafres: auf der einen Seite Berggipfel über üppiger | |
| Vegetation, auf der anderen Seite nichts als der Ozean. La Réunion war nie | |
| eine nur auf sich selbst bezogene, abgeschirmte Insel. Das haben die | |
| Aktivistinnen und Literaten der Kreolität in den 1970er Jahren immer wieder | |
| erklärt, und es schwingt auch in den Worten von Boris Gamaleya mit: „Ein | |
| wunderbarer Gesang, der die schwarze Nacht vergessen lässt. Es ist dein | |
| Volk, das spricht. Halt dir nicht länger die Ohren zu.“ | |
| Aus dem Französischen von Sabine Jainski | |
| Margot Hemmerich und Clémentine Méténier sind Journalistinnen. | |
| 17 Jun 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Margot Hemmerich | |
| Clémentine Méténier | |
| ## TAGS | |
| Parlamentswahlen Frankreich | |
| La Réunion | |
| Jean-Luc Mélenchon | |
| Migration | |
| Schwerpunkt Frankreich | |
| Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
| GNS | |
| Polynesien | |
| Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
| Jean-Luc Mélenchon | |
| Jean-Luc Mélenchon | |
| Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
| La Réunion | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Körperkunst in Polynesien: Heilige Tinte | |
| Tattoos waren in Polynesien von höchster kultureller Bedeutung, wurden aber | |
| lange von der Kirche verboten. Nun erlebt die Körperkunst eine Renaissance. | |
| Parlamentswahlen in Frankreich: Ex-Putzkraft wird Abgeordnete | |
| Die neu gewählte Nationalversammlung Frankreichs ist diverser geworden. | |
| Jedoch sinkt der Frauenanteil unter den Abgeordneten um zwei Prozentpunkte. | |
| Parlamentswahlen in Frankreich: Wer reicht ihm die Hand? | |
| Emmanuel Macrons Parteienbündnis Ensemble! verliert die Mehrheit bei den | |
| Parlamentswahlen. Die Mitbewerber reagieren erst einmal schadenfroh. | |
| Parlamentswahlen in Frankreich: Im Haus Macron riecht es angebrannt | |
| Kurz nach den Präsidentschaftswahlen bekommt Macron den ersten Denkzettel: | |
| Bei den Parlamentswahlen kommt das linke Wahlbündnis von Mélenchon nahe. | |
| Parlamentswahlen in Frankreich: Macrons Mehrheit wackelt | |
| Das Lager des Präsidenten liegt nach den Parlamentswahlen hauchdünn vor dem | |
| Bündnis des Linken Mélenchon. Die Wahlbeteiligung sinkt auf ein Rekordtief. | |
| Musikmesse auf der Insel La Réunion: Am Ende tanzen alle mit | |
| Métissage, Maloya, Misere: Die Messe „Indian Ocean Music Market“ auf der | |
| Insel La Réunion schafft viele Verbindungen über die Meere in der Musik. |