| # taz.de -- Parlamentswahl in Griechenland: So stimmt die Jugend | |
| > In Griechenland dürfen nun auch Jugendliche mit 16 Jahren wählen. Sieben | |
| > Erstwähler*innen haben der taz erzählt, für wen sie stimmen wollen – und | |
| > warum. | |
| Bild: Johanna Merkouri, (links) Georgios Papadopoulos, Irini Mandouka wollen ei… | |
| Athen taz | „Fisika!“, sagt Katja Theososiadou. „Ja klar!“ wolle sie ü… | |
| die kommenden Parlamentswahlen in Griechenland sprechen. „Aber bitte ohne | |
| Foto“, lässt sie im Vorfeld über ihren Vater erklären. Schnell ist der | |
| Treffpunkt vereinbart: ein kleines Amphitheater in einem Park im | |
| gutbürgerlichen nördlichen Athener Vorort Halandri, nur einen Steinwurf von | |
| ihrem Haus entfernt. | |
| Katja darf am kommenden Sonntag wählen. Das bestimmt das am 26. Juli 2016 | |
| im Athener Regierungsblatt veröffentlichte Gesetz 4406/2016. Konkret sieht | |
| es vor, dass das Wahlalter in Griechenland um ein Jahr herabgesenkt wird. | |
| Beschlossen hatte dies die Regierung [1][unter dem damaligen | |
| Premierminister Alexis Tsipras vom Bündnis der Radikalen Linken (Syriza)]. | |
| Lapidar heißt es in Artikel 1: „Das Recht zu wählen haben alle | |
| Griech*innen, die das 17. Lebensjahr vollendet haben.“ Ein Novum im Land. | |
| Zu den Neuwähler*innen zählen auch diejenigen, die dieses Alter bis zum | |
| Ende des Wahljahres erreicht haben werden. | |
| So wie Katja. Naturlocken, große Augen, sportliche Figur, sie zählt zu den | |
| Allerjüngsten unter den Jungwählern. Sie ist erst 16 Jahre alt – ihren 17. | |
| Geburtstag feiert sie am 23. September. Katjas achtsamer Vater ist bei dem | |
| Treffen dabei. „Ich werde wählen und weiß auch, welche Partei“, sagt sie | |
| mit fester Stimme. Ihr Kriterium bei der Stimmabgabe sei, dass die Partei | |
| „Stabilität“ ausstrahle, offenbart sie. Sie wisse, welche Parteien dies | |
| böte und welche nicht. | |
| ## 36 Parteien buhlen um Jungwähler*innen | |
| Auch erst 16 ist Georgios Papadakis aus dem gehobenen Küstenvorort Palio | |
| Faliro ganz im Süden der Vier-Millionen-Metropole Athen – seinen 17. | |
| Geburtstag feiert er 19 Tage nach der Wahl. Er habe sich schon auf eine | |
| Partei festgelegt, der er seine Stimme gebe, versichert er. | |
| Das wichtigste Thema sei für ihn die Migration. „Ich will nicht, dass | |
| unsere Grenzen für Flüchtlinge und Migrant*innen geschlossen werden. Ich | |
| will keine Diskriminierung von Migrant*innen.“ Mehr noch: Die | |
| Neuankömmlinge sollten, so Georgios weiter, hierzulande die Chance | |
| erhalten, „in unsere Gesellschaft integriert und so aktive Bürger zu | |
| werden“. | |
| Seine Zukunft sieht er im Ausland, um dort zu studieren. In England, Irland | |
| oder in den Niederlanden. Ob er wieder in seine Heimat zurückkehre – „Eher | |
| nicht“, räumt Georgios kleinlaut ein. | |
| Schuld daran seien das „rückständige“ Bildungssystem oder die für junge | |
| Griech*innen oftmals prekäre Jobsituation, legt Georgios den Finger in | |
| die Wunde. In der Tat: Knapp 25 Prozent der 15- bis 24-Jährigen haben laut | |
| dem griechischen Statistikamt Elstat am Peloponnes keinen Job (Stand: März | |
| 2023). Zu viel liege im Land im Argen, stellt er fest. Baldige Besserung | |
| sei nicht in Sicht. | |
| Laut Expert*innen dürfte für den Wahlausgang am 21. Mai wohl zum einen | |
| die Wahlbeteiligung maßgeblich sein. Obendrein sei die Stimmabgabe der | |
| Jungwähler*innen ein entscheidender Faktor. | |
| Der Grund dafür ist, dass insgesamt 438.595 der knapp 10 Millionen | |
| wahlberechtigten Griech*innen zum ersten Mal wählen können. Davon sind | |
| 112.097 Wahlberechtigte im Jahr 2006 geboren und somit erst 16 oder maximal | |
| 17 Jahre alt. | |
| Weitere 109.719 Wahlberechtigte sind 2005 geboren, ferner 108.762 im Jahr | |
| 2004 sowie schließlich 108.017 im Jahr 2003 – die sind also höchstens 21 | |
| Jahre alt. Um ihre Wählergunst buhlen gleich 36 Parteien. Darunter sind | |
| sechs Parlamentsparteien – von der Griechischen Lösung (Elliniki Lysi) ganz | |
| rechts bis hin zur Kommunistischen Partei (KKE) ganz links. | |
| ## Machtzentren im Hintergrund | |
| Das Treffen mit Alkis Proiskos findet im schicken Athener Café Project im | |
| grünen Athener Vorort Melissia statt. Alkis ist ebenfalls noch 16. Er wird | |
| am 30. Mai 17 Jahre alt, neun Tage nach der Wahl. Schon von klein auf habe | |
| er sich dafür entschieden, Architekt zu werden. Sein Traumberuf. Politik | |
| habe ihn auch schon früh interessiert. Die Wahlen seien ihm wichtig. Daher | |
| versuche er, sich so gut wie möglich zu informieren. | |
| Von den beiden großen Parteien halte er nicht viel. „Sie haben meine | |
| Wünsche nicht erfüllt“, sagt Alkis. Hinter den Großparteien stünden | |
| einflussreiche Machtzentren wie die EU und die USA. Daher wolle er einer | |
| kleineren Partei seine Stimme geben, die noch nicht so „beeinflusst und | |
| beschädigt“ sei, um ihr so beim Sprung über die 3-Prozent-Hürde zum Einzug | |
| ins Athener Parlament zu verhelfen. | |
| Eine klare Absage erteilt Jungwähler Alkis radikalen Parteien. | |
| „Antidemokratische Parteien lehne ich ab.“ Ein Spruch gefalle ihm sehr gut. | |
| „Die Demokratie mag nicht perfekt sein. Sie ist aber die beste Staatsform, | |
| die es gibt.“ | |
| Das erklärte Ziel des konservativen Premiers Kyriakos Mitsotakis (Nea | |
| Dimokratia, ND) ist es, alleine in Athen weiterzuregieren. Alles andere | |
| würde „nur für Instabilität sorgen“, warnt die ND. Von Anfang 2015 bis | |
| Mitte Juli 2019 hatte die radikallinke Syriza unter Ex-Premier Alexis | |
| Tsipras in Athen das Zepter in der Hand. | |
| Ein „riesiges Problem“, so Alkis, sei die unter der Regierung Mitsotakis | |
| ausufernde Polizeigewalt gegenüber jungen, vor allem regierungskritischen | |
| Griechen. Das brutale Vorgehen der Polizei vergrätze ihn. [2][Ferner habe | |
| der Athener Abhörskandal] mit dem Einsatz der berühmt-berüchtigten | |
| Spähsoftware Predator tiefe Spuren bei ihm hinterlassen. Alkis Proiskos: | |
| „Ich sage mir: Moment mal! Wo leben wir? In China, Nordkorea?“ | |
| Alkis büffele gerade Tag für Tag hart für das Abitur. Lernstress hin, | |
| Prüfungen her: Richtig Spaß mache ihm derzeit die tägliche Fahrt im | |
| Schulbus. Mit seinen Mitschüler*innen führe er oft politische | |
| Diskussionen. Obgleich es dabei mitunter hitzig zugehe: „Könnten wir noch | |
| nicht wählen, gäbe es die Busdebatten nicht.“ | |
| ## Stress durch steigende Preise | |
| Total schwarz sieht Odysseas seine Zukunft. „Kannst du schon wählen, | |
| Odysseas?“ Der junge Grieche nickt. Am 5. Dezember wird er 17. „Die Schule | |
| ist schlecht, die Lehrer*innen haben keine Lust. Der Staat hat große | |
| Schulden.“ Für ihn ist die Sache glasklar: „Mit Griechenland geht es | |
| bergab.“ Er habe keinerlei Hoffnung. | |
| Dennoch werde Odysseas wählen gehen. Seine Stimme gebe er einer Partei, die | |
| es „denen da oben mal so richtig zeigt“, poltert er unverhohlen. Plötzlich | |
| steht er auf und greift sich sein Mountainbike. Schon tritt er in die | |
| Pedale. „Tschüss, ich muss nach Hause. Meine Eltern warten schon.“ Es ist | |
| zu erahnen, was er wählen wird. Rechtsradikal. | |
| Das sehen Johanna Merkouri, Irini Mandouka und Georgios Papadopoulos ganz | |
| anders. Das Schülertrio, unisono Jahrgang 2005, besucht die letzte | |
| Schulkasse eines Lyzeums an einer stark befahrenen Ausfallstraße in der | |
| Hafenstadt Piräus, wo eher einkommenschwächere Griech*innen leben. Alle | |
| drei sind gerade 18 Jahre alt geworden, für alle ist es die erste Wahl in | |
| ihrem Leben. „Ich gehe wählen. Das muss sein. Sonst verändert man nichts“, | |
| beteuert Georgios. Gerade ist er von einem Testspiel seines Fußballteams | |
| zum vereinbarten Treffen in seiner Schule geeilt. Er habe gewollt, dass er | |
| die Ersatzbank drücke, erzählt er. Er sei Torhüter. Seit einem Monat habe | |
| er nicht mehr trainiert. „Keine Zeit, wegen der Schulprüfungen.“ Georgios | |
| lacht. | |
| Zeit genommen habe er sich jedoch, um sich vor der Wahl gründlich zu | |
| informieren. „Ich will wissen, was ich wähle. Nicht das, was meine Eltern | |
| wählen oder mir einreden wollen.“ | |
| Für Georgios könne „nur eine große Partei einen schnellen Wandel | |
| erreichen“, den Griechenland so nötig habe. Ob Strom, Lebensmittel oder | |
| Benzin: Alles, wirklich alles, sei teurer geworden. Richtig aufregen kann | |
| sich Georgios über die miesen Jobaussichten seiner Generation. Nur wer | |
| Vitamin B habe, kriege eine bessere Arbeit. „Man studiert und wird trotzdem | |
| Kellner oder Zusteller. Wieso?“ Gute Frage. | |
| ## Staatsversagen pur | |
| Tief in sein Gedächtnis eingegraben habe sich die verheerende Zugtragödie | |
| mit 57 Toten [3][am letzten Februartag im zentralgriechischen Tempital]. | |
| Ein Intercity stieß in voller Fahrt auf falschem Gleis frontal mit einem | |
| entgegenkommenden Güterzug zusammen. Innerlich sei er immer noch | |
| aufgewühlt, so wie viele Griech*innen. „Wie kann es sein, dass in China | |
| Züge unfallfrei mit mehr als 300 Kilometern pro Stunde fahren und hier so | |
| etwas passiert?“ Staatsversagen pur. | |
| Johanna und Irini nicken. „Traurig macht mich das, wenn ich an die Tragödie | |
| in Tempi denke“, sagt Irini. „Wir sprechen immer noch darüber, in der | |
| Familie, in der Clique.“ Aus Wut, Empörung, Protest oder gar Überzeugung | |
| rechtsradikal zu wählen, komme für sie jedoch gar nicht infrage. | |
| „Ich bin gegen Nazis. Wie kann man seinen Mitmenschen hassen? Einfach so, | |
| ohne Grund?“ Wie ihr Klassenkamerad Georgios sorgt sich Irini um die | |
| Preisexplosion, vor allem im Supermarkt. Das erzeuge nur Stress in der | |
| Familie, wenn sie sich immer weniger leisten könne. Stiegen die Preise, | |
| müssten ebenso die Löhne in demselben Ausmaß steigen, findet sie. „Wir | |
| wollen leben können, nicht nur überleben.“ | |
| Dem stimmt Johanna zu. Sie wolle Preise, die sich „eine normale Familie | |
| leisten“ könne, und eine „bessere Schule“. Zurzeit büffele sie fünf St… | |
| pro Tag, nach der Schule wohlgemerkt. Die in Griechenland sehr harte | |
| Abiturprüfung würde sie am liebsten abschaffen. An den Rechtsradikalen | |
| lässt sie ebenso kein gutes Haar. „Ich bin gegen Nazis, gegen deren | |
| Aggressivität. Ich will Politiker, die mein Land zivilisiert vertreten. In | |
| Europa, in der Welt.“ Sie wolle eine Wende in Griechenland. Dafür lohne es | |
| sich, wählen zu gehen. Reife Jugend. | |
| 18 May 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ferry Batzoglou | |
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