# taz.de -- Neues Soloalbum von Kim Gordon: Sprengen und Scheitern | |
> „The Collective“ heißt das neue Soloalbum von US-Künstlerin Kim Gordon. | |
> Sagt ihre Musik etwas aus über die gesellschaftliche Atmosphäre in den | |
> USA? | |
Bild: Einfach lässig: Kim Gordon | |
Stoische Hip-Hop-Beats aus der Dose, darüber verzerrte, fast industrielle | |
Sounds, die kaum als Gitarren zu identifizieren sind, falls es sich | |
überhaupt um welche handelt. Darüber wiederum die so vertraute, nasale | |
Stimme Kim Gordons im Sprechgesang. | |
Die elf Stücke auf „The Collective“, dem zweiten Soloalbum der heute in Los | |
Angeles lebenden Musikerin – [1][früher bei der New Yorker Band Sonic | |
Youth] –, stellen aufreibende Noise-Musik dar, die aber gleichzeitig | |
erstaunlich gut ins Ohr geht. | |
Tatsächlich komme ich beim ersten Hören überhaupt nicht auf die Idee, dass | |
dieser Krach auf irgendeine Weise widerständig, herausfordernd, oder gar | |
rebellisch sein könnte. | |
## An Dissonanzen gewöhnt | |
Die 70-jährige US-Künstlerin Gordon, die auch als Modemacherin, | |
Produzentin, Kuratorin und bildende Künstlerin arbeitet, sieht das ähnlich: | |
[2][„Was wir in den 1980ern mit Sonic Youth gemacht haben – ausgenommen | |
vielleicht unser Album ‚Daydream Nation‘ –, war schon Nischenmusik“,] | |
erklärt Gordon im taz-Interview. „Aber inzwischen haben sich die Menschen | |
an dissonante Musik gewöhnt. Ich habe mich an das gehalten, was mich schon | |
immer beeinflusst hat, The Stooges, No-Wave-Sound von Bands wie DNA. Das | |
entspricht mir. Ich kann keine andere Musik machen, höchstens noch etwas, | |
das nach typischem Indierock klingt, aber das interessiert mich nicht.“ | |
Trotzdem suche ich bei Kim Gordon instinktiv nach Bedeutung, nach | |
Kommentaren zur Zeit, nach dem Stand der Debatte über die polarisierte | |
US-Gesellschaft. Titel wie „I Don’t Miss my Mind“, „Believers“ oder �… | |
Man“ laden auch dazu ein. „Mein Song ‚I’m a Man‘“, erklärt Gordon,… | |
sich auf ultrakonservative US-Politiker wie Josh Hawley. | |
Auf männliche, weiße Gruppierungen, die sich die traditionellen | |
Rollenbilder der 1950er Jahre zurückwünschen. Und der Songtext handelt | |
davon, wie verloren Männer sind, wenn sie nicht mehr die Rolle des | |
Beschützers, des Retters spielen können. Sie sind zu Konsumenten geworden, | |
zum Ziel von Marketing, wie vorher die Frauen.“ | |
## Vom Wolkenkratzer in die Tiefe stürzen | |
Die TV‑Serie „Mad Men“ bringe diese Entwicklung auf den Punkt und | |
symbolisiert sie schon im Vorspann, bei dem ein Mann im Anzug vor einem | |
Wolkenkratzer in die Tiefe stürzt. Gordon bemitleidet solche Männer, auch | |
wenn sie, nicht nur in den USA, gerade wieder auf dem Vormarsch sind. | |
[3][Allzu viel Bedeutung sollte man den neuen Songs von Kim Gordon aber | |
nicht beimessen. Ihr Antrieb für die Musik sei vor allem Langeweile | |
gewesen, sagt sie im Interview.] Sie hatte gerade kein Kunstprojekt, und | |
die Arbeit an ihrem Debütsoloalbum hatte ihr großen Spaß gemacht. Dies | |
hatte sie, wie auch jetzt „The Collective“, zusammen mit dem Produzenten | |
Justin Raisen aufgenommen, der auch mit Stars wie Charlie XCX und | |
Youngstern wie Yves Tumor arbeitet. | |
Der Titel „The Collective“ beziehe sich auf Jennifer Egans Buch „Candy | |
Haus“, in dem die Menschen ihre Erinnerungen per App in die Cloud hochladen | |
und teilen können, irgendwie habe es aber auch etwas mit der Beziehung von | |
Performerin und Publikum zu tun. Auf der Bandcamp-Seite für „The | |
Collective“ gibt Kim Gordon ein stärkeres Statement ab, als es ihr im | |
20-minütigen Zoomtalk zu entlocken ist. | |
## Paranoia ist überall | |
„Mit dem Album wollte ich den totalen Irrsinn ausdrücken, der mich umgibt. | |
In diesem Moment weiß niemand wirklich, was die Wahrheit ist, wenn Fakten | |
die Menschen nicht mehr überzeugen; wenn jeder auf seiner eigenen Seite | |
steht und damit ein allgemeines Gefühl von Paranoia schafft. Um zu | |
beruhigen, zu träumen, dem mit Drogen zu entkommen, mit Fernsehshows, | |
Shopping, dem Internet, ist alles leicht, glatt, bequem, zur Marke gemacht. | |
Das hat in mir den Wunsch ausgelöst, etwas zu sprengen, etwas Unbekanntem | |
zu folgen, vielleicht sogar zu scheitern.“ | |
Lässt sich in der Musik besser scheitern als in der bildenden Kunst, Frau | |
Gordon? „Vielleicht. Auf jeden Fall erreicht man mit Musik mehr Menschen. | |
Was ich durch die Songs ausdrücke, ist alles sehr intuitiv und nicht sehr | |
geplant. Aber mein Instinkt ist es immer, Menschen mit Musik | |
herauszufordern. Zu sagen: Nimm das!“ | |
Noch einmal: Gordons neues Album hört sich durchaus stilbewusst an. Zum | |
Beispiel beim Auftaktsong „Bye Bye“: Sein Text listet Reisevorbereitungen | |
auf, genussvoll trocken vorgetragen zu stumpfen Beats, mit industriell | |
anmutenden Kracheinlagen und sich in die Höhe schraubenden | |
Quietschgeräuschen. | |
Die Musik klingt nicht so sehr düster, eher ernst und dringlich, ein | |
reizvoller Kontrast zur Aufzählung banaler Alltagsdinge, die es einzupacken | |
gilt: Zigaretten, T-Shirts, Jeans, Vibrator. Und der Hundesitter muss auch | |
noch verständigt werden. Im Videoclip, inszeniert von Fotografin Clara | |
Balzary, sehen wir Gordons Tochter Coco, die Kleinigkeiten im Drugstore | |
klaut, sich dann in einem Motelzimmer duscht und aufbrezelt – um | |
schließlich von Kim Gordon im Pick-up abgeholt zu werden, von dessen | |
Beifahrersitz sie bei der nächsten Gelegenheit flieht. | |
Eine traurige Geschichte. Kann Coco nicht mit Freunden ausgehen und einen | |
guten Abend haben? Was erzählt das über das Verhältnis von Mutter und | |
Tochter? „Es wird nicht ganz klar, wovor sie flieht. Und mich selbst habe | |
ich in dem Moment nicht als ihre Mutter gesehen, die sie im Auto irgendwo | |
hinfährt, eher als Autoritätsperson, die gekommen ist, um sie mitzunehmen. | |
Es war die Idee der Regisseurin.“ | |
Kim Gordon ist durchaus freundlich und lächelt viel, während sie am | |
heimischen Esstisch sitzt und in die Webcam schaut. Das macht es nicht | |
weniger enttäuschend, wie dünn die Gedanken sind, die sie zu ihrer Kunst | |
entwickelt. Dieser Kunst, die ästhetisch so ansprechend ist. Vielleicht | |
etwas zu ansprechend. | |
Es erhärtet sich der Verdacht, dass es sich bei Kim Gordons neuem Soloalbum | |
um wasserdichte, längst etablierte Ästhetik handelt, die zwar Spaß macht, | |
aber eines nicht hat: Sprengkraft. Kim Gordon ist selbst zur Marke | |
geworden, im Interview bestätigt sie das lapidar: „Ich möchte keine Marke | |
sein, aber ich bin es ganz offensichtlich, zumindest in einem gewissen | |
Maße. Aber ich möchte es lieber offen lassen, was die Leute in mir sehen. | |
Man kann so was nicht kontrollieren, und man wird verrückt, wenn man zu | |
viel über so etwas nachdenkt.“ | |
15 Mar 2024 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Schneider | |
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