# taz.de -- Neues Album von Rapper Kendrick Lamar: Ein Kreisen um die Krisen | |
> Kind im Arm, Knarre am Hosenbund: US-Rapper Kendrick Lamar gibt sich auf | |
> seinem Album „Mr. Morale & the Big Steppers“ als wandelnder Widerspruch. | |
Bild: Hat er wieder eine neue Stufe des Erfolgs erklommen? Kendrick Lamar in So… | |
„Stop tap-dancing around the conversation“, sagt Whitney Alford am Ende von | |
„We Cry Together“, dem achten Song eines der meisterwarteten Alben dieses | |
Musikjahres. Whitney Alford ist die Highschool-Liebe von Kendrick Lamar, | |
Mutter der gemeinsamen Tochter und, mutmaßlich, die Person im Hintergrund | |
auf dem Cover des neuen, fünften Werks des kalifornischen Künstlers, „Mr. | |
Morale & the Big Steppers“. Im Vordergrund steht er, Kind im Arm, Pistole | |
am Hosenbund und eine Dornenkrone auf dem Kopf: Kendrick Lamar – der | |
Rap-Messias höchstpersönlich. | |
Es ist eben diese Rolle als König des HipHop und des Gewissens von Rap, die | |
der 34-Jährige nun reflektiert. „Hör auf, um die Diskussion herumzutanzen�… | |
sagt Whitney Alford also, untermalt – tatsächlich – von Stepptanzschritten. | |
Ihr Echo hallt durch die neue Platte des US-Rappers. Ebenso wie die Stimme | |
von Alford, die als Erzählerin durch die 18 Tracks führt. | |
Um den heißen Brei herumzureden war allerdings noch nie eine Sache Lamars, | |
der seit seinem Debüt 2011 als [1][Stimme einer jungen Schwarzen | |
Generation] gilt: Der Lieblingskünstler von Barack Obama wurde für seine | |
sozialkritischen Texte als erster und bisher einziger US-Rapper 2018 mit | |
einem Pulitzer-Preis geehrt. | |
## Er macht etwas durch | |
Eröffnet wird „Mr. Morale & the Big Steppers“ von dem feierlichen Song | |
„United in Grief“, in dessen Signatur sich wirbelnde Drums und getragene | |
Pianoklänge abwechseln. „I hope you find some peace“, singt R&B-Sänger Sam | |
Dew, der mehreren Intros seine Stimme leiht. „Tell them the truth“, ergänzt | |
Whitney Alford in ihrer Rolle als Wegweiserin. [2][Kendrick Lamars] erste | |
Worte: „I’ve been goin’ through somethin’“. | |
Er macht also etwas durch, seit 1.588 Tagen schon, so lang ist die | |
Veröffentlichung des gefeierten Vorgängers „DAMN.“ her. Was genau es ist, | |
was ihn die letzten fünf Jahre beschäftigt hat, macht er sich nun bereit, | |
auf 18 Songs zu erörtern. Denn Kendrick Lamar hat keine Lösungen parat, er | |
umkreist Probleme und stellt Fragen. Da ist etwa das introspektive, | |
Kammerpop-artige „Crown“, das ohne Beat auskommt. Dafür dehnt Lamar seinen | |
Stimmumfang fast bis ins Unangenehme aus, wenn er immer wieder ein Mantra | |
wiederholt: „I can’t please everybody“. | |
## Shakespeare umschreiben | |
Er kann es nicht allen recht machen. Eine Einsicht des Rapkings, der seinen | |
eigenen Status seziert: „Heavy is the head that chose to wear the crown“, | |
ein umgeschriebenes Shakespeare-Zitat. Hinzugedichtet hat Lamar dabei das | |
Wort „chose“ und betont damit, dass er nicht unschuldig ist an den | |
Projektionen, die an ihm haften. Lamar versucht in den 18 Songs all diesen | |
Themen – und Erwartungen – gerecht zu werden, die in den letzten fünf | |
Jahren den Diskurs um ihn bestimmt haben, statt in Interviews antwortet er | |
auf seine Weise mit Songs. | |
Das atemlose „We Cry Together“ ist ein aggressiver Dialog zwischen | |
[3][Kendrick Lamar] und der Schauspielerin Taylor Paige, ein in Musik | |
gebanntes Beziehungsdrama, der Refrain ein einziges „Fuck You“, das in | |
einer Diskussion von #MeToo und Geschlechterkämpfen endet: „You the reason, | |
we overlooked, underpaid, under-booked, under shame“, ruft Taylor Paige. | |
„You the reason Harvey Weinstein had to see his conclusion / You the reason | |
R. Kelly can’t recognize that he’s abusive.“ Und plötzlich ist es Kendri… | |
Lamar selbst, der sich in dieser Position und damit als angeklagter Mann | |
verteidigen muss, der wegen Gewaltausübung an Frauen auf der Anklagebank | |
sitzt. | |
Dafür, dass in den Texten seines Albums immer wieder die Folgen | |
(sexualisierter) Gewalt thematisiert werden, ist seine eigene Haltung | |
denjenigen gegenüber, die sie ausüben, erstaunlich versöhnlich. So darf mit | |
Kodak Black ein Rapper als Gast auf dem Album mitwirken, gegen den wegen | |
Vergewaltigung einer Minderjährigen ermittelt wird, rechtskräftig | |
verurteilt wegen Körperverletzung ist er bereits. | |
Eine andere Kontroverse hat sich derweil am Songtitel „Auntie Diaries“ | |
entspannt: „My auntie is a man now“, rappt Lamar darin und erzählt von der | |
geschlechtlichen Transition zweier Familienmitglieder und der damit | |
verbundenen jahrzehntelangen Diskriminierung, unter anderem durch | |
Kirchenvertreter. So progressiv dieses Thema ist, wiederholt Lamar darin | |
immer wieder eine homophobe Beleidigung. Er wusste es nicht besser, | |
entschuldigt er sein Middle-School-Ich. Und nutzt das Wort, mittlerweile 34 | |
Jahre alt, weiterhin. Ebenso verwirrend: Lamar misgendert seine | |
trans-Familienmitglieder durchweg. Die Message soll wohl sein: Wir sind | |
nicht perfekt, wir lernen alle. | |
## Mit Fünf zur Waffe greifen | |
Seine Familie beziehungsweise transgenerationale Traumata ergründet Lamar | |
auch in „Mother I Sober“. Darin erzählt er von den Missbrauchserfahrungen | |
seiner Mutter und wie er mit Fünf schon hätte zur Waffe greifen sollen, um | |
sie zu beschützen. Dieses Motiv kommt auch in „Worldwide Steppers“ zum | |
Ausdruck: „Playin’,Baby Shark' with my daughter / Watchin’ for sharks | |
outside at the same time.“ Während Lamar mit seiner Tochter also einen | |
viralen Kinder-Tanz-Hit hört, behält er die weniger zahnlosen „Haie“ vor | |
ihrer Tür genau im Blick. | |
„Life as a protective father, I’d kill for her“, geht es weiter (und | |
womöglich verrät Lamar hier auch, dass er zum zweiten Mal Vater geworden | |
ist). Diese Zeilen scheinen auf dem Cover zu „Mr. Morale & the Big | |
Steppers“ visualisiert zu werden, inklusive der Pistole, die er als | |
Fünfjähriger schon hätte haben wollen. | |
Auch musikalisch atmet „Mr. Morale“ immer wieder introspektive Tiefe. | |
Elektronischer Gospel („Savior“, „Silent Hill“) trifft auf wütende | |
Sprachsamples aus Internetvideos, wabernde Synths und Bass-Drums („Auntie | |
Diaries“) treffen auf allein von Streichern getragenen Instrumentals. Die | |
Samples bedienen sich eher beim zeitgenössischen Pop, so werden Florence | |
and the Machine und die Sängerin Kadhja Bonet gesampelt, und weniger Funk | |
und Soul der 1960er und 1970er Jahre, bisher eine Trademark von Lamars | |
Sound. Das einzige Soul-Sample wird rückwärts abgespielt und ist einer | |
Single-Veröffentlichung des völlig unbekannten Acts Hoskins N’Crowd | |
(„You’re Not There“, 1960) entnommen. | |
## Haltet euch an Eckhart | |
Man kann Lamars Klangkulisse vorwerfen, musikalisch nicht so konsistent zu | |
sein wie etwa die auf „To Pimp a Butterfly“ (2015), einem Werk, das mit der | |
florierenden Jazz-Szene seiner Heimatstadt Los Angeles zusammen entstanden | |
ist, auch das etwas konventioneller produzierte Werk „DAMN.“ (2017) klang | |
in sich geschlossener. Etwas, was sich auf die thematische Allumfasstheit | |
von Kendrick Lamar übertragen lässt. Doch werden die vielen Tracks und | |
Themen durch die unterschiedlichen Erzähler*innen in Intros und | |
Zwischenspiele gut zusammengehalten. | |
In einem dieser Intros rät Whitney Alford Lamar auch „Reach out to Eckhart“ | |
– Eckhart ist der in Kanada lebende deutsche Selbsthilfe-Guru Eckhart | |
Tolle, der an einer Stelle der Platte darüber aufklärt, wie sich ein Selbst | |
durch die erlebten Rückschläge und Traumata konstituiert. „Guess I’m not … | |
mature as I think, got some healing to do“, gibt Lamar zu. | |
Sein Album wird bereits als Therapie gelesen. Gegen all die Traumata, die | |
Diskriminierung und strukturelle Gewalt über Jahrhunderte in unsere | |
Gesellschaft eingeschrieben haben, und all jene, die sich in den letzten | |
fünf Jahren manifestiert haben. Doch dieses Mal nimmt Kendrick Lamar, das | |
Rap-Gewissen und Mr. Morale höchstpersönlich, auch sich selbst kritisch in | |
den Blick. | |
„Mr. Morale & the Big Steppers“ ist ein Album, über das noch lange zu reden | |
sein wird, ein Kreisen um Krisen, um Orte, wo es wehtut, wo es keine | |
einfachen Antworten gibt. | |
19 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Diviam Hoffmann | |
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