| # taz.de -- Neues Album von Owen Pallett: Der Mensch ist keine Insel | |
| > In „Island“ geht es um Queerness und soziale Isolation. Mit seinen | |
| > Orchesterarrangements verbindet Pallett außerdem klassische Musik und | |
| > Pop. | |
| Bild: Owen Pallett bietet in seinen Songs Wege aus der sozialen Isolation | |
| „Kein Mensch ist eine Insel“, postulierte der englische Dichter John Donne | |
| 1624. Manchmal fühlt es sich aber eben doch so an, als wäre man auf sich | |
| allein gestellt: auf einem Eiland. Dieses Gefühl beschwört auch das fünfte | |
| Album des [1][kanadischen Komponisten Owen Pallett] herauf: „Island“. | |
| Vielleicht fühlt es sich in der Hilflosigkeit auch so an, als drehten | |
| „Fahrradreifen auf nassem Zement“ durch oder als rausche Blut um einen | |
| herum „wie eine Herde Phantompferde“ oder als wäre man ein „windleeres | |
| Segel, das auf dem Küchenboden kollabiert“. Mit solch kunstvollen Metaphern | |
| beschreibt Owen Pallett Depressionen auf „Island“, begleitet von sich | |
| selbst auf einer akustischen Gitarre, mit einem Fingerpicking, das an Nick | |
| Drakes Meisterwerk „Pink Moon“ (1972) erinnert. | |
| Beizeiten gesellt sich ein Orchester hinzu, aufgenommen in den | |
| Abbey-Road-Studios: das London Contemporary Orchestra, das (wie übrigens | |
| Owen Pallett selbst) auch schon [2][mit Frank Ocean] gearbeitet hat, dem | |
| US-R&B-Superstar. Überhaupt dürften Owen Palletts Arbeiten vielen bekannt | |
| vorkommen, ohne dass sie es wussten: Palletts Soundtrack für das | |
| dystopische [3][Science-Fiction-Drama „Her“ mit Scarlett Johansson] war | |
| 2014 für den Oscar nominiert. | |
| Künstler wie die [4][britischen Pet Shop Boys] und [5][Arcade Fire aus | |
| Toronto] schwören auf Palletts Orchester-Arrangements. Seit dem dritten | |
| Lebensjahr in klassischer Musik ausgebildet, spielt Pallett Violine und | |
| Bratsche. Die umfassenden orchestralen Skills kommen auch auf Palletts | |
| Soloalben zum Zuge, die Pallett mit extravaganten Arrangementideen | |
| versieht. | |
| ## Popsongs wie Fertig-Mayonnaise | |
| Was unterscheidet eigentlich ein schlechtes Streicher-Arrangement von einem | |
| genialen? Man könnte sagen, Owen Palletts Streicher sind wie eine frisch | |
| angerührte Vinaigrette, bei der alle Kräuter mit Bedacht gesät und in die | |
| Textur der Sauce eingerührt werden – wo handelsübliche | |
| Streicher-Arrangements in Popsongs eher wie Fertig-Mayonnaise aus dem | |
| Zehn-Liter-Eimer die Tracks zuklatschen. | |
| Die Vinaigrette setzt dem Salat ein spannendes Kontra; die Massenmayo | |
| „intensiviert“ den Salatgeschmack bloß mit einem Overkill aus Fett, bis | |
| einem flau wird. Oder, etwas größer gedacht: Owen Palletts Streicher sind | |
| wie der Chor einer griechischen Tragödie – ein vielschichtiger Charakter, | |
| der interagiert. | |
| Die Klangwelt auf „Island“, sie gleicht einer Insel, auf der Lewis | |
| gestrandet ist, wie in einer Robinsonade. Die Figur Lewis ist Pallett-Fans | |
| schon vom „Heartland“-Album (2010) bekannt. Dass Owen Pallett damals wie | |
| jetzt harte Sujets wie Trauma und Depression im queeren Kontext angeht, ist | |
| gesellschaftlich von Relevanz. Und kommt gerade sogar öfter vor. | |
| Aber anders als bei Lady Gaga und ihrem aktuellen Album „Chromatica“ ächzt | |
| Palletts Musik nicht unter der Last von chartkompatiblem Schranztechno. Und | |
| anders als bei der sperrigen Electronica von Arca aus Venezuela ist Owen | |
| Palletts Musik wiederum sehr zugänglich: Die Melodien sind eingängig – wenn | |
| sie auch manchmal etwas verschlüsselt werden durch die poetischen Texte. | |
| ## Drogenabhängigkeit, Hedonismus und Self-Care | |
| Kritik an toxischer Maskulinität schimmert durch, etwa wenn die Mutter des | |
| lyrischen Ichs erzählt, die Tobsucht sei ein Mann, den sie hereingelassen | |
| habe. Auch Drogenabhängigkeit wird als Problem benannt. Und das Verwechseln | |
| von Hedonismus mit Self-Care. Die Komplexität bei Owen Pallett, [6][wo die | |
| Queerness in der Form liegt] – sie fischt, bei aller Meeresmetaphorik | |
| voller Riffe, nie nach Komplimenten. | |
| Und doch läuft sie quer zum Mainstream: So arbeitet Owen Pallett oft mit | |
| Techniken der klassischen Musik: etwa Bitonalität – zwei Tonarten in einer | |
| –, wie sie sich im sinfonischen Werk von Claude Debussy findet. In einem | |
| Popsong taucht dies sonst eher selten auf. Palletts Akkorde dringen | |
| mitunter spektral auseinander. Doch geht Pallett nie mit der | |
| Kompositionskunst hausieren, sondern arbeitet immer songdienlich und | |
| inklusiv, will viele Hörer:innen mit seiner Musik erreichen. | |
| Mit „Island“ hat Owen Pallett ein Opus magnum vorgelegt – nicht zuletzt | |
| auch, weil in den Songs Auswege aus der sozialen Isolation anklingen. Als | |
| soziale und politische Wesen können wir eben nicht dauerhaft Inseln | |
| bleiben. | |
| 15 Jun 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Stefan Hochgesand | |
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