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# taz.de -- Neue Trennlinien in Berlin: Die Mauer ist wieder da
> Am Montag ist die Mauer genauso lange weg, wie sie da gewesen war. Ein
> Fund in Schönholz zeigt, dass sie die Menschen noch immer beschäftigt.
Bild: Echt oder nicht echt? Das Stück Mauer in Schönholz
„Angry“ hat jemand auf das verwitterte Stück Ziegelmauer gesprüht, das
unweit des S-Bahnhofs Schönholz in der Berliner Wintersonne vor sich
hindämmert. Ein paar Waldarbeiter schlagen am Vormittag Schneisen durch das
dichte Gestrüpp, laut heulen die Kettensägen. Dazwischen begutachten
vereinzelt Menschen die Ziegelwand.
Ende Januar hatte die Nachricht des selbsternannten Pankower
Heimatforschers Christian Bormann hohe Wellen geschlagen. Er behauptete,
Reste der Berliner Urmauer gefunden zu haben, jener ersten Behelfsmauer,
die die DDR 1961 quasi über Nacht hochgezogen und dazu auch vorhandenen
Gebäudereste benutzt hatte. Nachdem er seine Entdeckung der Öffentlichkeit
preisgab, waren täglich Dutzende BerlinerInnen, ausgerüstet mit
Fotokameras, aber auch mit Hammer und Meißel, ins Schönholzer Unterholz
gepilgert. Derweil versuchten die Bezirke und das Landesdenkmalamt
fieberhaft zu klären, ob die 80 Meter lange Ziegelwand an der Bezirksgrenze
zwischen Pankow und Reinickendorf tatsächlich Teil der ehemaligen
Grenzanlagen der DDR war.
In einer ersten Bewertung am vergangenen Mittwoch erklärte das
Landesdenkmalamt gegenüber dem Tagesspiegel, dass es sich nur um eine
„grenznahe Mauer“ handeln würde. Einen Tag später revidierte die Stiftung
Berliner Mauer das Urteil. Der Fund sei „echt und nicht fraglich“, sagte
die Sprecherin. Um ihn vor Souvenirjägern zu schützen, soll er nun
eingezäunt werden.
Was am Montag am sogenannten Zirkeltag, dem kalendarischen Datum, das
dokumentiert, dass die Mauer so lange gefallen ist, wie sie zuvor die Stadt
in Ost und West teilte, wie eine Hauptstadtposse anmutet, ist doch kein
Witz. 28 Jahre, 2 Monate und 26 Tage nachdem die Mauer fiel und nicht
schnell genug aus dem Stadtbild verschwinden konnte, ist die Aufregung über
ein gefundenes Stück Ziegelwand groß. Die Mauer ist wieder da. Aber war sie
jemals weg aus den Köpfen der BerlinerInnen, jedenfalls derer, die in der
geteilten Stadt lebten?
Noch immer gibt es Geschichten wie die des alteingesessenen Kfz-Mechanikers
aus Moabit, der nach eigener Aussage noch nie im Ostteil der Stadt war.
Noch immer erinnern sich am Weddinger oder Neuköllner Kneipentresen die
„Wolles“ und „Gerdchens“ an die „dolle Zeit“ mit Berlinzulage, als …
Kneipen und Lohnarbeit an jeder Straßenecke gab, die Portemonnaies voll und
die Mieten billig waren. Und noch immer hört man ehemalige Prenzlauer
Berger und zuletzt auch Pankower schimpfen, dass ihnen die Stadt quasi
„unterm Arsch weggezogen wurde“, auch lange nachdem ihre
Kohleofen-Wohnungen luxussaniert und verkauft wurden.
Das ist die eine Erfahrung der BerlinerInnen mit dem Mauerfall und dem, was
ihm folgte. Die andere ist ein kollektives Stadterlebnis im Hier und Jetzt,
das sie tagtäglich herausfordert und die Unterschiede zwischen Ost- und
Westberlin längst verschwimmen lässt. Etwa, wenn die in den Neunzigern
zugezogenen StuttgarterInnen und KölnerInnen heute ebenfalls aus ihren
Prenzlauer Berger Wohnungen verdrängt werden, weil sie sich die teuren
Mieten nicht mehr leisten können. Oder wenn die BewohnerInnen eines
Weddinger Miethauses um ihre Wohnungen bangen, weil ein Investor ihr Haus
gekauft hat.
Gemeinsam erleben die BerlinerInnen auch das Clubsterben in ihrer für ihr
legendäres Nachtleben bekannten Stadt, gemeinsam ertragen sie den Anblick
der neuen Schießschartenarchitektur rund um den Hauptbahnhof und die
Scharen von Rollkoffern, die über die Warschauer Brücke nach Kreuzberg
rollen.
Zusammen stimmten sie für die größte innerstädtische Grillwiese
Deutschland, das Tempelhofer Feld, reißen Witze über die nicht enden
wollenden Bauarbeiten am BER, verabschiedeten einen Eisbären und begrüßten
zwei Pandas. Gemeinsam halfen sie den wartenden Flüchtlingen vor dem
Lageso, und ebenso gemeinsam trauerten sie um die Opfer des Terroranschlags
auf dem Breitscheidplatz.
## Die DNA von Berlin
Die neuen Trennlinien der Stadt, sie verlaufen weniger zwischen Ost- und
Westberlin, sondern vielmehr zwischen Arm und Reich, Arbeit und arbeitslos,
Asyl und Abschiebung und, bezogen auf die geteilte Stadt, wohl eher
zwischen BerlinerInnen, die die Mauer und ihren Fall erlebt haben, und
denen, die davon im Geschichtsunterricht hören.
Und noch etwas Großes verbindet die BerlinerInnen seit dem Mauerfall: Als
im März 2013 Teile der East Side Gallery, eines der letzten
zusammenhängenden im Stadtbild verbliebenen Mauerstücks, einem
Luxusbauprojekt weichen mussten, gingen Tausende Menschen auf die Straße.
Was die Demonstranten, der Pankower Heimatforscher wie auch die
Mauerspechte in Schönholz zeigen: Auch 28 Jahre, 2 Monate und 26 Tage nach
dem Mauerfall möchten sich die BerlinerInnen an ihre geteilte Stadt
erinnern. Daran, dass sich die Klassenfeinde vor ihrer Haustür direkt in
die Augen schauten. Dass sie das Leben im Angesicht bewaffneter
Grenzsoldaten unter Repressionen und den Familienmitgliedern und Freunden
drüben nicht in die Knie zwang, sondern das sie in ihrer Stadt die Mauer
friedlich zu Fall brachten und fortan fast drei Jahrzehnte lang als
wiedervereinte Stadt Geschichte schrieben.
Die Mauer gehört zur Identität der BerlinerInnen, sie ist Teil ihrer DNA.
Umso wichtiger sind nach ihrem fast vollständigen Rückbau in der
Innenstadt, angesichts geschichtsvergessener Bauinvestoren und Stadtplaner
und lächerlicher Grenzsoldaten-Inszenierungen am Checkpoint Charlie mehr
denn je der Erhalt und die Pflege ihrer Erinnerungskultur – auch jenseits
der Gedenkstätten. Der Wunsch nach lebendiger Erinnerung verbindet die
BerlinerInnen. Er sollte gehört werden, solange weltweit immer neue Grenzen
gezogen werden.
Ein weiterer Text zum Thema: [1][“Ich bin ein „Wossi“]
5 Feb 2018
## LINKS
[1] /Ostdeutscher-Blick-auf-Mauer-Zirkeltag/!5479606/
## AUTOREN
Julia Boek
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