# taz.de -- Neue Regierung in Israel: Koalitionstanz um den heißen Brei | |
> Um den Nahostkonflikt macht die neue israelische Regierung einen großen | |
> Bogen. Dabei gibt es bereits Anzeichen für eine neue Eskalationen. | |
Bild: Wie viele Parteien passen auf einen Stuhl? Premier Bennett (links) und La… | |
TEL AVIV taz | Ein Split-Screen im israelischen Fernsehen zeigte die | |
gespaltenen Reaktionen, die nach der Vereidigung der neuen Regierung am | |
Sonntagabend durch das Land gingen: Während in Jerusalem Ultraorthodoxe an | |
der Klagemauer gegen die neue Regierung beteten, knallten auf dem Tel | |
Aviver Rabinplatz die Korken. „Bibi, nach Hause!“, bejubelten dort Tausende | |
Netanjahu-Gegner*innen das vorläufige [1][Ende der Ära des scheidenden | |
Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu]. | |
US-Präsident Joe Biden gratulierte dem neuen Premier Naftali Bennett von | |
der Jamina-Partei umgehend. Nur zwei Stunden nach der Vereidigung fand ein | |
Telefongespräch zwischen den beiden statt. Sie waren sich einig, eng in | |
Sachen regionaler Sicherheit zusammenzuarbeiten, auch in Bezug auf den | |
Iran. Biden betonte außerdem, „Frieden, Sicherheit und Wohlstand für | |
Israelis und Palästinenser fördern“ zu wollen. | |
Angeführt wird Israel von nun an von einer [2][Koalition aus acht denkbar | |
divergierenden Parteien] von weit rechts nach links bis hin zur | |
islamisch-konservativen Partei Ra’am, deren größter gemeinsamer Nenner der | |
Wunsch war, [3][Netanjahu seines Amtes zu entheben]. | |
Ministerpräsident wird zunächst Bennett von der Siedlerpartei Jamina. In | |
zwei Jahren soll ihn Jair Lapid, der bis dahin Außenminister sein wird, von | |
der zentristischen Zukunftspartei ablösen. | |
## Likud-Abgeordnete rufen „Betrüger“ und „Schande“ | |
Netanjahu, der das Land seit 2009 ununterbrochen regiert hatte, gab sich am | |
Montag als schlechter Verlierer. Die traditionelle Übergabezeremonie | |
verweigerte er seinem Nachfolger. Kein Foto, keine feierliche Übergabe, | |
lediglich ein dreißigminütiges Übergabegespräch räumte er ihm ein. | |
Schon in der hitzigen Eröffnungssitzung, bei der die neue Regierung am | |
Sonntagabend mit einer hauchdünnen Mehrheit von 60 zu 59 Stimmen gewählt | |
und vereidigt wurde, wetterte der scheidende Premierminister gegen seinen | |
Nachfolger, warf ihm „den größten Betrug in der israelischen Geschichte“ | |
vor und warnte erneut vor „dieser gefährlichen, linken Regierung“. Bennett | |
sei „fake-rechts“. | |
Likud-Abgeordnete störten Bennetts Eröffnungsrede im israelischen Parlament | |
am Sonntagnachmittag kontinuierlich mit Zwischenrufen wie „Betrüger“ und | |
„Schande“. Kaum einen Satz konnte er zu Ende sprechen. Zahlreiche | |
Abgeordnete wurden vom Sicherheitspersonal des Sitzungssaales verwiesen. | |
Das Geschrei zeige die tiefe Spaltung Israels, die in Netanjahus Amtszeit | |
entstanden sei, kommentierte Bennett. Er sprach sich in seiner Rede gegen | |
eine Rückkehr zum internationalen Atomabkommen mit dem Iran aus und stellte | |
eine gute Zusammenarbeit mit den USA und die Annäherung an weitere | |
arabische Länder in Aussicht. | |
## Der Flaggenmarsch wird eine Zerreißprobe | |
Jair Lapid, der Architekt der neuen Koalition, der aber Bennett den | |
Vortritt als Ministerpräsident lässt, gab angesichts der herrschenden | |
Atmosphäre statt seiner geplanten Rede nur ein kurzes Statement ab. | |
[4][Die neue Regierung wird kein leichtes Spiel haben]. Zahlreiche | |
Sollbruchstellen könnten zu einem frühen Ende der Koalition führen. Die | |
größte Herausforderung dürfte der Umgang mit dem Konflikt zwischen den | |
Israelis und den Palästinenser*innen sein. | |
Gleich am Dienstag könnte die Regierung damit auf eine Zerreißprobe | |
gestellt werden. Denn zu einer Neuauflage des sogenannten Flaggenmarsches | |
wollen etwa 5.000 nationalistische Israelis mit Israelfahnen durch die | |
Altstadt Jerusalems ziehen – auch durch den arabisch geprägten Teil rund | |
ums Damaskus-Tor. | |
Der Flaggenmarsch war im vergangenen Monat Teil der explosiven Mischung, | |
die den Kriegsausbruch zwischen Hamas und Israel mit verursacht hatte. | |
## Die Hamas hat bereits gewarnt | |
Der Marsch findet traditionell jedes Jahr zum Jerusalem- Tag statt, mit dem | |
Israel die Eroberung Ostjerusalems feiert – für viele | |
Palästinenser*innen ist das eine Provokation. In diesem Jahr wurde | |
der Marsch aufgrund von Sicherheitsbedenken vorzeitig aufgelöst. Kurz | |
danach feuerte die Hamas Raketen aus dem Gazastreifen auf Jerusalem ab. Es | |
war der Beginn des 11-tägigen Krieges zwischen Hamas und Israel im Mai. | |
Wohl auch auf Drängen Netanjahus soll der Flaggenmarsch nun erneut | |
stattfinden. | |
Die Hamas hat bereits gewarnt, dass der Marsch „neue Unruhe stiften wird“, | |
und zu neuen Raketen vom Gazastreifen aus führen würde. | |
Innerhalb der Regierungskoalition könnten die Positionen zum Flaggenmarsch | |
kaum unterschiedlicher sein. So steht der neue Minister für innere | |
Sicherheit der Arbeitspartei, Omer Bar Lew, vor einer schweren | |
Entscheidung, ob er den Marsch noch verbieten soll. | |
Ein Fortschritt in Sachen Friedenslösung ist von der neuen Regierung nicht | |
zu erwarten. Ihre Überlebensdauer hängt auch an der Frage, wie lange es ihr | |
gelingt, den Israel-Palästina-Konflikt und andere strittige Themen | |
auszublenden und pragmatische Regierungsarbeit zu leisten. | |
## Erstmals eine arabische Partei in der Regierung | |
Genug zu tun gibt es: Zahlreiche wichtige Posten sind in den letzten Jahren | |
unbesetzt geblieben. Der Staatshaushalt muss auf einen neuen Stand gebracht | |
werden. Das Gesundheitssystem ist unterversorgt. Der öffentliche Verkehr | |
muss modernisiert werden. | |
Hoffnungsschimmer für die progressiveren Israelis ist jedoch die historisch | |
einmalige Beteiligung einer arabischen Partei an der Regierung. Zwar wird | |
die konservativ-islamische Partei Ra’am auf die großen Themen wie | |
Siedlungsbau und Friedensverhandlungen kaum Einfluss nehmen können. Doch | |
für die palästinensischen Bürger*innen Israels konnte Parteichef Mansour | |
Abbas einiges herausholen, etwa die rechtliche Anerkennung von beduinischen | |
Dörfern in der Negevwüste und umgerechnet 13 Milliarden Euro des Haushalts | |
für die arabische Gemeinschaft Israels. | |
14 Jun 2021 | |
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## AUTOREN | |
Judith Poppe | |
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