# taz.de -- Neue Entwicklungen zu #MeToo: Schmerz, nicht harmloses Vergnügen | |
> Vom Nobelpreis bis zu Christian Kracht: In kulturellen Bereichen galt es | |
> geradezu als notwendig, Demütigungen auszuhalten. Damit ist nun Schluss. | |
Bild: Nicht länger schweigen, nicht länger verstecken | |
Es ist erschreckend, was im Zeichen von #MeToo derzeit auch im kulturellen | |
Bereich herauskommt. Das Bekenntnis des Schriftstellers Christian Kracht, | |
als Zwölfjähriger von einem Lehrer sexuell missbraucht worden zu sein, | |
vorgetragen während seiner Frankfurter Poetikvorlesung, steht ja weiß Gott | |
nicht allein da. | |
Man muss sich das einmal vergegenwärtigen. Der [1][Literaturnobelpreis wird | |
dieses Jahr nicht vergeben] und womöglich auf lange Zeit noch beschädigt | |
sein, weil die Jury Missbrauchsfälle bis, so ist zu vermuten, hin zur | |
Vergewaltigung systematisch verschleierte. Dass der angeblich so hehre | |
Kreis um den Dichter Stefan George sich in seinem Kern um Missbrauch | |
drehte, legt eine Recherche der FAS nahe. | |
Der amerikanische Schriftsteller Junot Díaz hat sich erst selbst in einem | |
erschütternden Text als Missbrauchsopfer geoutet – bevor er seinerseits von | |
gleich drei Frauen auch als Täter benannt wurde. Und dann gibt es noch den | |
Fall Dieter Wedel, der, nach allem, was man weiß, seine Machtposition als | |
Filmregisseur für Psychoterror und sexuelle Gewalt benutzt hat. | |
Allein schon diese Aufzählung zeigt, wie zentral die #MeToo-Bewegung für | |
das gesellschaftliche Selbstverständnis insgesamt längst geworden ist. Was | |
sie ermöglicht hat, ist ein ganz anderes, ein direktes Sprechen. | |
Schweigekartelle; Verschwiemelungen von sexueller Gewalt an Kindern und | |
Jugendlichen als „pädagogischer Eros“; auch das Schweigen von Menschen, die | |
ihre Missbrauchserfahrung bislang tief in sich begraben hatten – das alles | |
bricht jetzt auf. Zum Glück. Wer Geschichten der Betroffenen oder Artikel | |
über sie liest, stellt schnell fest, dass sie bislang nicht allein aus | |
Scham oder Selbstschutz geschwiegen haben, sondern auch deswegen, weil sie | |
keine Chance sahen, gehört zu werden. | |
## Traurige Berichte über Ich-Panzerungen der Betroffenen | |
Man muss es im Lichte der aktuellen Fälle so deutlich sagen: Unsere | |
Gesellschaft war, was sexuelle Gewalt betrifft, nicht auf Empfang | |
geschaltet. In manchen kulturellen Bereichen galt die Fähigkeit, | |
Demütigungen auszuhalten, sogar geradezu als notwendige Bedingung dafür, | |
auf diesem angeblich so kreativen und selbstbestimmten Feld mitmachen zu | |
dürfen. Oft genug mit schlimmen Auswirkungen für die Betroffenen. | |
Angelehnt an den Klassiker „Männerphantasien“ des Kulturtheoretikers Klaus | |
Theweleit bringt Christian Kracht nun die betont kalten, oft psychisch | |
gepanzerten Figuren seiner Romane wie „Faserland“, „Imperium“ oder „D… | |
Toten“ mit seiner Missbrauchserfahrung zusammen. In der Geschichte im | |
letzten Spiegel über die Missbrauchsfälle rund um den Nobelpreis stieß man | |
auf sehr traurig machende Berichte über die Ich-Panzerungen der | |
Betroffenen. | |
Gerade in solchen Abspaltungen und in diesen psychischen Fluchten in die | |
Kälte und in die Härte zeigt sich, wie man nach so einer Erfahrung um sein | |
Selbstbild, manchmal um sein Leben ringen muss. Übrigens kann man am Fall | |
Christian Kracht auch sehen, dass da keineswegs nur die Pädagogen des | |
Eliteinternats, auf das er geschickt worden war, versagt haben, sondern | |
auch die Mitglieder seiner eigenen Familie. | |
Was tun? Institutionell müssen, wo noch nicht geschehen, checks and | |
balances in die kulturellen Institutionen eingebaut werden, so dass | |
Schweigekartelle nicht weiterbestehen können. Darüber hinaus gehört so | |
manche weiterhin gängige Vorstellung von Kultur auf den Müllhaufen. Wer sie | |
nur als harmloses Vergnügen nimmt – wie viele der aktuellen auf Wellness | |
und Unterhaltung ausgerichteten Marketingkampagnen rund ums Lesen –, der | |
liest über den Schmerz, der als Glutkern manchmal in ihr steckt, allzu | |
schnell hinweg. | |
Und mit auf diesen Müllhaufen gehören die Ideen, nach denen sich | |
Künstlergenies mehr herausnehmen dürfen als andere Menschen oder nach denen | |
man erst Opfer zu bringen hat, bevor man im Kreis der erlauchten | |
Kulturschaffenden aufgenommen wird. Gerade durch solche Ideen wurde allzu | |
oft Missbrauch verbrämt. | |
18 May 2018 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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