| # taz.de -- Doku über den Dichter Stefan George: Vorahnung und Wahrsagerei | |
| > Dokufilmer Ralf Rättig rekonstruiert den bürgerlichen Topchecker der | |
| > Vornazizeit: „Stefan George – Das geheime Deutschland“ auf 3Sat. | |
| Bild: Stefan George empfängt die Brüder Stauffenberg | |
| Seine Gedichte zirkulieren kaum mehr, man liest ihn nicht wie einen | |
| Botschafter von entzifferbaren Geheimnissen. Er ist selbst unter | |
| Germanisten und Lyrikkundigen keine Person, die geläufig wäre, wie etwa | |
| Rainer Maria Rilke, Anfang des 20. Jahrhunderts ein Star in der | |
| Sprachkunst. | |
| Stefan George ist ein Unbekannter geworden, dabei war sein Name einmal | |
| wirklich prominent. Er ist jener, der für den vor wenigen Jahren | |
| verstorbenen Frank Schirrmacher ein Stichwortgeber war, einer, dessen Sound | |
| der FAZ-Herausgeber liebte, das Raunen und Wahrsagen, das Spekulieren über | |
| das, was kommen werde, gewiss ein Verhängnis. | |
| Diesem in den verunsicherten bürgerlichen Klassen Deutschlands einst | |
| verehrten George, 1868 als Sohn eines Gastwirtsehepaares am Rhein zur Welt | |
| gekommen, in einem Örtchen, das heute zu Bingen gehört, hat Ralf Rättig, | |
| erfahrener Mann aus dem 3Sat-„Kulturzeit“-Kreis, eine Dokumentation | |
| gewidmet: Wer war Stefan George, und was genau? | |
| Das ist ihm klug gelungen, er hat viele kompetente Menschen gewonnen, ihm | |
| vor der Kamera Auskunft zu geben. Oft kommt Thomas Karlauf zu Wort, der | |
| erste Stefan-George-Biograf, aber auch Ulrich Raulff vom Literaturachiv | |
| Marbach, Meike Sophia Baader, Expertin für Sittengeschichte des frühen 20. | |
| Jahrhunderts, auch Svenja Flaßpöhler, Chefredakteurin des Philosophie | |
| Magazins. Von ihnen allen wird Expertise eingeholt zu Fragen, die sich in | |
| Sachen Stefan George stellen: Was war, mit ihm als Person, das für eine | |
| Zeit, als junge, aus bürgerlichen (also keineswegs: proletarischen) | |
| Familien stammende Männer dem elitären Zirkel um den Dichter verfielen, | |
| gern unter den Schirm des pädagogischen Eros schlüpften, dieser anziehenden | |
| Stimmung, die nicht als homosexuell missverstanden werden möge? | |
| War Stefan George ein ins und über das Ungefähre Schreibender, Dichtender, | |
| der so gern ein intellektueller König des geistigen Deutschland geworden | |
| wäre und von manchen aus konservativen Milieus auch dafür gehalten wurde? | |
| Ralf Rättig baut für seinen 45-Minuten-Film schöne Kulissen mit Bildern aus | |
| Heidelberg und dem Grunewaldviertel in Berlin, hat einen Schauspieler | |
| engagiert, den er Gedichte von George aufsagen lässt – und sie klingen | |
| wirklich sehr schön und wichtig. | |
| Man kann schon spüren, worauf George, dieser Vorsteher einer literarisch | |
| und lebensweltlich gläubigen Sekte, hinaus wollte: der liberalen, ja, | |
| kapitalistisch ewige Unruhe verbreitenden Moderne mit ihrer | |
| Massendemokratie ein Elysium, einen Thron des Elitären aufzusetzen, mit ihm | |
| selbst an der Spitze, als Durchblicker, Topchecker. Denn Stefan George, das | |
| wird in diesem Film klar gesagt, schöpfte bei allem, was er bewirken | |
| wollte, vor allem aus diesem Antrieb: Das Moderne, das Egalitäre, sagte ihm | |
| gar nicht zu. | |
| Und immer ging es ihm um „Deutschland“, das Land der Dichter und Denker, | |
| aus dem noch zu Georges Lebzeiten eines der Richter und Henker wurde, um | |
| dessen Rettung, um dessen geistige Bewahrung – und man hört, obwohl Stefan | |
| George kein ausdrücklicher Judenfeind war, stetig zwischen den Zeilen | |
| heraus, man kann gar nicht anders: Er mochte das, was dem Jüdischen als | |
| Beitrag zur Moderne zugeschrieben wird, nicht. Nicht die metropole | |
| Buntheit, die lebenszugewandte Körperneugier, das Gewusel der entfremdeten, | |
| nicht mehr überschaubaren Verhältnisse. Er war kein Nazi, doch hat er | |
| vielen Völkischen die Worte mit in die Tornister gegeben, um ein | |
| Deutschland über allen anderen zu fantasieren. | |
| Irre ist nur, dass Stefan George unter heutigen Verhältnissen ein schwuler | |
| Mann wäre, der verzweifelt den Umstand zu verbergen suchte, körperlich, so | |
| Karlauf, mit Frauen nichts anfangen zu können. George starb kurz nach der | |
| NS-Machtübernahme in der Schweiz, verarmt, ein Ende nach einem Leben als | |
| reaktionärer Bohemien. | |
| Rättigs guter Film bietet an, die Parallelen zum Heutigen zu ziehen, es | |
| geht gar nicht anders: Die Bürgerlichen warten auf einen wie diesen | |
| Wortklangsetzer, der das Unglück zu sehen meint, dies in Reime kleidet und | |
| zur Tat zu schreiten wünscht. Sie, die Ängstlichen der gehobenen Schichten, | |
| sind ja schon nervös genug. | |
| 7 Jul 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Feddersen | |
| ## TAGS | |
| Dichter | |
| Dokumentation | |
| 3sat | |
| Weimarer Republik | |
| Frank Schirrmacher | |
| Christian Kracht | |
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