# taz.de -- Neue Biografie über Tove Ditlevsen: Eine Diva voller Widersprüche | |
> Tove Ditlevsen führte ein herausforderndes Leben. Nun ist über die | |
> hierzulande spät entdeckte dänische Autorin eine lesenswerte Biografie | |
> erschienen. | |
Bild: Die Autorin Tove Ditlevsen 1959 | |
Könnte man einen Blick von oben auf das gesamte Leben von Tove Ditlevsen | |
(1917–1976) werfen, auf all die Rollen, die sie innehatte, all das, was sie | |
darstellte, was sie durchmachte, so würde einem wohl schwummrig werden. | |
Die dänische Starschriftstellerin schrieb Liebesgedichte und | |
Psychiatrieprosa, arbeitete als Kummerkastenkolumnistin für Zeitungen, war | |
medikamentenabhängig, beschrieb sich selbst als „wahnsinnig“, hatte vier | |
Ehen und drei Kinder, wollte zugleich die freie Liebe ausprobieren und | |
setzte diesem hochbewegten Leben schließlich selbst ein Ende. | |
In Dänemark war Tove Ditlevsen schon immer eine bekannte Autorin, | |
international und in Deutschland wurde sie erst in den vergangenen Jahren | |
richtig entdeckt, vor allem durch die [1][wiederveröffentlichte | |
Kopenhagen-Trilogie] („Kindheit“, „Jugend“, „Abhängigkeit“). Nun i… | |
eine Biografie erschienen, geschrieben hat sie der dänische | |
Literaturkritiker Jens Andersen, der auch schon Bücher über die | |
Lebensgeschichten [2][Astrid Lindgrens] und Hans Christian Andersens | |
verfasst hat. | |
Leben und Literatur lagen bei Tove Ditlevsen eng beieinander, man kann sie | |
als frühe Vertreterin der Autofiktion betrachten. Für sie bedeutete | |
Schreiben, viel über sich preiszugeben, „sich selbst auszuliefern“, wie sie | |
sagte. Vor allem ihre Prosa sollte ungeschönte Realität abbilden. „Ich | |
schreibe am besten, wenn es etwas gibt, das mir in irgendeiner Weise Qualen | |
verursacht hat. In der Idylle sehe ich für mich keinen Stoff“, zitiert | |
Biograf Andersen sie. | |
Ditlevsen stammt aus einer Kopenhagener Arbeiterfamilie und bewegte sich | |
vom frühen Erwachsenenalter an in der Intellektuellenszene der dänischen | |
Hauptstadt – eine klassische Aufsteigerinnengeschichte. Sie heiratete | |
Männer, die Publizisten und Schriftsteller waren, fühlte sich jedoch | |
zeitlebens fremd in den gebildeteren Kreisen. | |
## Eine Celebrity und Diva | |
Sie hatte immer wieder mentale Zusammenbrüche, war häufig in der | |
Psychiatrie. Während des Zusammenlebens mit dem Arzt Carl T. Ryberg wurde | |
sie medikamentenabhängig, wobei ihr Mann als ihr Dealer fungierte. | |
Sie war aber auch ein Celebrity, eine Diva, das arbeitet Andersen gut | |
heraus. Auf die Frage, was sie vom Leben will, sagte sie in jungen Jahren: | |
„Macht, Berühmtheit und viel Geld. Ich würde gern berühmt werden. Ich mag | |
es, wenn die Leute mich erkennen, sich umdrehen, wenn ich irgendwo | |
hereinkomme, und sagen: ‚Das ist ja Tove Ditlevsen!‘“ Dieses Ziel hat sie | |
zumindest in ihrem Heimatland erreicht. | |
Vielleicht mochten die Leute an ihr, wie klar und unverblümt sie über die | |
Ehe, über Sex, über Drogen, über den Wahnsinn sprach. „In ihrer Rolle als | |
Anstößige, Anzügliche und Unschickliche war sie in ihrem Element“, schreibt | |
Andersen. Sie selbst sagte über ihren frühen Ruhm: „Ich war damals eine Art | |
[3][Françoise Sagan.] Jung, mit einer interessanten Vorgeschichte und mit | |
einem kleinen, pikanten Anflug von ‚Tragik‘ um mich herum.“ | |
## Dümmer durch Kinder und Abwasch | |
Am interessantesten ist diese kompakte Biografie da, wo die | |
Identitätsentwürfe Ditlevsens unvereinbar, allzu widersprüchlich | |
erscheinen: Sie war ein Outlaw, wollte aber immer bürgerlich leben. Sie | |
verteidigte die Ehe, wusste aber doch, was diese mit den Frauen ihrer Zeit | |
machte (sie sprach von „geistig verwandten Wesen […], die mit Idioten | |
verheiratet sind und durch Kinder und Abwasch immer dümmer und dümmer | |
werden“). | |
Sie war Feministin und als solche Avantgarde in Dänemark, wollte aber | |
später die Frauenbewegung nicht unterstützen. Als wandelnder Widerspruch | |
ist Tove Ditlevsen ein Phänomen. | |
Auch ihr Literaturverständnis versteht man wohl nur ganz, wenn man bedenkt, | |
dass das Schreiben über die (eigene) brutale Lebenswirklichkeit für | |
Ditlevsen einen Moment der Befreiung bedeutete: „Daher muss ich mich | |
Abschnitt für Abschnitt aus meinem Leben schreiben. Der Erkenntnisprozess | |
kommt erst, wenn ich schreibe. Schreiben ist eine Flucht aus der | |
unerträglichen Wirklichkeit“, zitiert Andersen seine Protagonistin. | |
Weil ihre Prosa genauso dicht, pointiert, manchmal fast aphoristisch ist | |
wie diese Aussage, sollte man nach dieser Biografie auch die Romane | |
Ditlevsens lesen. | |
4 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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