# taz.de -- Neonazis wegen Mordes vor Gericht: Motiviert von Schwulenhass | |
> Christopher W. stirbt am Güterbahnhof in Aue, totgeschlagen von drei | |
> jungen Männern. Demnächst könnte das Urteil gegen sie fallen. | |
Bild: Der Ort der Mordtat am Güterbahnhof im sächsischen Aue | |
BERLIN/CHEMNITZ taz | Es ist fast so etwas wie eine Hinrichtung, die am | |
Abend des 17. April 2018 im sächsischen Aue stattfindet. Christopher W. – | |
ein schmächtiger 27-Jähriger, Brillenträger – trifft sich hier in einem | |
Abrisshaus am Güterbahnhof mit seinen Bekannten Terenc H., Stephan H. und | |
Jens H. Sie sind nicht zum ersten Mal hier. Dieses Mal aber soll es zuvor | |
eine Verabredung des Trios gegeben haben: Man werde Christopher W. töten. | |
Was folgt, ist ein Martyrium, zwanzig Minuten lang. Ermittler | |
rekonstruierten es – es sind kaum erträgliche Beschreibungen. Sofort, | |
nachdem Christopher W. eintrifft, soll ihm Stephan H. mit der Faust ins | |
Gesicht geschlagen haben. Dann habe auch Terenc H. zugetreten, Jens H. habe | |
ihm mit einem Aluminiumstück eine tiefe Schnittwunde im Gesicht | |
beigebracht. Das Trio wirft Christopher W. in einen 1,80 Meter tiefen | |
Schacht, soll hinterhergesprungen sein und auch dort auf ihn eingeschlagen | |
haben. Mit einer Lampenröhre wird ihm ins Gesicht gestochen. | |
Als Christopher W. immer noch lebt, habe das Trio ihn wieder aus dem | |
Schacht gezogen, so die Ermittler. Mit einer Glasscherbe hätten sie W. den | |
rechten Unterarm aufgeschlitzt und ihn dann mit dem Gesicht auf die | |
Schachtkante gelegt. Terenc H. und Stephan H. hätten auf den Kopf des | |
27-Jährigen eingetreten. Dann hätten sie ihn zurück in den Schacht geworfen | |
und dort mit einer Türkante auf ihn eingeschlagen. Bevor das Trio den | |
Sterbenden zurücklässt, macht es noch ein Foto von ihm, das einer der | |
Angreifer später an Bekannte verschicken wird. Christopher W. erliegt noch | |
am Tatort einer Hirnzertrümmerung. | |
Es ist eine beispiellos grausame Tat. Und eine, die die Bundesregierung als | |
rechtsextremen Mord einstuft – als den einzigen im Jahr 2018. Weil, so | |
formulieren es die Ermittler, sich mindestens einer der Angeklagten auch | |
„an der bekannten Homosexualität des Geschädigten störte“. | |
## Das 85. Opfer seit der Wende – oder das 195.? | |
Damit ist Christopher W. nach Zählung der Bundesregierung das 85. | |
Todesopfer durch rechte Gewalt seit der Wende im Jahr 1990. Unabhängige | |
Opferverbände notieren indes weit mehr Fälle: Nach ihrer Listung ist | |
Christopher W. der 195. Mensch, den Rechtsextreme seitdem getötet haben. | |
Und sie dokumentieren für 2018 auch über diesen Fall hinaus eine Reihe | |
schwerer Gewalttaten von Rechtsextremen – und eine anhaltend hohe Gefahr | |
der Szene. Ihre Jahresbilanz wollen sie am Dienstag in Berlin präsentieren. | |
Der Fall Christopher W. wird dabei einen grausigen Tiefpunkt darstellen. | |
Der 27-Jährige arbeitete als Koch, Bekannte beschrieben ihn als | |
„Sonnenschein“, aber auch als Mobbingopfer. Mit zwei der jetzt Angeklagten | |
– Terenc H. und Jens H. – war W. befreundet. Die Männer müssen sich mit | |
Stephan H. für die Tötung seit einigen Wochen vor dem Landgericht Chemnitz | |
verantworten. Kommende Woche könnte das Urteil fallen. | |
Die drei Angeklagten, 22 bis 27 Jahre alt, sind in vielfacher Hinsicht | |
Gescheiterte. Sie sind allesamt arbeitslos, überschaubar intelligent, | |
Drogenkonsumenten, teils mehrfach vorbestraft. Einer lebte in einem | |
betreuten Wohnprojekt. Das Trio interessierte sich für Fußball und getunte | |
Autos. Ihr Tagesverlauf sah meist so aus: Man traf sich draußen, hing ab, | |
soff – und auch Christopher W. war regelmäßig dabei. „Christopher, ich | |
vermisse dich“, schrieb Terenc H. nach dem Mord auf Facebook. Dann nahm ihn | |
die Polizei fest. | |
## Keine organisierten Neonazis – aber doch Rechtsradikale | |
Das ist die eine Seite. Aber es gibt noch eine andere. Denn Jens H. posiert | |
auch auf einem Foto im Pullover der Rechtsrock-Band „Landser“. Zu den 27 | |
Vorstrafen von Terenc H. zählt auch, dass er vor Jahren antisemitische | |
Parolen schwang und öffentlich ein Hakenkreuz-Tattoo auf seiner Brust | |
zeigte. | |
Auch Stephan H. trug früher ein solches Tattoo, in seinem Wohnheimzimmer | |
soll er laut Zeugen Rechtsrock gehört und dieses einschlägig dekoriert | |
haben. Auf seiner Facebookseite prangen bis heute SS-Symbole und ein | |
Reichsadler. Die drei sind keine organisierten Neonazis – aber welcher | |
Ideologie sie anhängen, verhehlen sie nicht. | |
Es ist Terenc H., der am Morgen nach der Tat die Polizei ruft. Er habe eine | |
Leiche gefunden, behauptet er. Es sei die seines Freundes. Stephan H. | |
wiederum vertraut sich einer Betreuerin in seinem Wohnheim an. Den | |
Ermittlern bietet sich am Güterbahnhof ein schreckliches Bild: Die Leiche | |
von Christopher W. ist so malträtiert worden, dass sie zunächst nicht | |
identifiziert werden kann. | |
Im Gerichtssaal schweigt das Trio zunächst. Sie treten in Kapuzenpullovern | |
und kurz geschorenen Haaren auf, den Blick gesenkt. An ihrem Mitwirken an | |
dem Gewaltexzess besteht kein Zweifel. Offen ist nur, wer die antreibende | |
Kraft war – und welches Tatmotiv letztlich ausschlaggebend. | |
## Im Prozess beschuldigen sich die Angeklagten gegenseitig | |
Die Verteidiger des Trios bestreiten, dass der Antrieb ein politischer war. | |
Terenc H. behauptet im Prozess zunächst, sich an nichts mehr erinnern zu | |
können. Zu betrunken sei er damals gewesen. Später revidiert er die | |
Aussage, lässt seinen Anwalt eine Erklärung verlesen: Die Gruppe habe sich | |
geärgert, dass Christopher W. herumerzählte, dass sie Drogen nähmen. Es | |
habe darauf eine Aussprache geben sollen. Dass diese derart eskalierte, | |
habe er nicht gewollt. Er selbst habe Christopher W. nur eine Ohrfeige | |
verpasst und danach das Geschehen „wie gelähmt“ verfolgt. | |
Auch die anderen Anwälte verlesen Erklärungen ihrer Mandanten – in denen | |
sich letztlich alle gegenseitig beschuldigen und jeder nur am Rand | |
gestanden haben will. Mal heißt es, Stephan H. habe die Gewalt immer weiter | |
angefeuert. Der wiederum behauptet, Terenc H. habe ihn zu dem Mord | |
angestiftet, weil er Christopher W. loswerden wollte. | |
Eine spontane Eskalation? Der Versuch, einen unliebsam Gewordenen zu | |
beseitigen? Oder doch etwas anderes? Verteidiger Lang bestätigt, dass sich | |
Stephan H. wiederholt über Christopher W.s Homosexualität mokiert habe, ihn | |
als „Schwuchtel“ beleidigte. Dieser solle ihn nicht „anschwulen“, habe … | |
einmal gesagt. Ein Zeuge berichtet über Stephan H., dass dieser W. einmal | |
aufforderte, aufzuhören „zu tänzeln“ – sonst ramme er ihm eine Flasche … | |
den Hals. Ein anderes Mal habe er gedroht: „Die Schwuchtel ist auch noch | |
dran.“ Schon zuvor habe Stephan H. Christopher W. mit einem Messer | |
verletzt, „aus Spaß.“ | |
Klar ist: Am Ende wurde Christopher W. wie in einem Blutrausch getötet. | |
Von einer „schockierenden Tat“ spricht Anna Pöhl von der Opferberatung der | |
Regionalen Arbeitsstelle für Bildung, Integration und Demokratie (RAA) in | |
Chemnitz. Pöhl beobachtet den Prozess. „Einer der heftigsten Fälle, mit | |
denen wir zu tun hatten.“ Womöglich sei es eine Mischung aus Motiven | |
gewesen, die zu der Tat geführt hätten, so die Opferberaterin. „Aber eines | |
der Motive war eindeutig ein rechtsextremes.“ | |
Pöhl verweist auf die offensichtliche rechtsextreme Einstellung der | |
Angeklagten. Auch hätten gleich drei Zeugen im Prozess die homophoben | |
Tiraden von Stephan H. bestätigt. „Und auch die Exzessivität der Tat | |
spricht für ein menschenverachtendes Motiv“, so Pöhl. „Wir werten die Tat | |
daher als politisch motiviert.“ | |
Das sieht offenbar auch die Polizei so: Auch sie stufte den Fall als | |
rechtsextremen Totschlag ein. Deshalb landete Christopher W. in der | |
offiziellen Statistik der Todesopfer durch rechtsextreme Gewalt. Auch für | |
die unabhängigen Opferverbände ist es der einzige Todesfall im Jahr 2018. | |
## Der Streit um die Zahl der Opfer rechtsradikaler Gewalt | |
An anderer Stelle aber klaffen die Zahlen immer noch weit auseinander – wie | |
die Differenz zwischen den offiziell anerkannten 85 Todesfällen durch | |
rechte Gewalt und den 195 Fällen, die die Opferverbände zählen, aufzeigt. | |
Politiker von SPD, Linken und Grünen fordern schon lange, diese Lücke | |
aufzuarbeiten und zu schließen. | |
Tatsächlich hatten Brandenburg und Berlin dies zuletzt getan und externe | |
Kommissionen beauftragt: In der Hauptstadt wurden darauf 7 Todesfälle | |
nachträglich anerkannt, in Brandenburg waren es 9. Im November 2018 | |
beschloss auch Thüringen, eine unabhängige Untersuchung einzuleiten. | |
Robert Kusche vom Bundesverband der Beratungsstellen für Betroffene rechter | |
Gewalt fordert, dass auch die andere Länder nachziehen. „Die Differenz | |
zwischen den Zählungen ist so eklatant, dass es dringend eine | |
flächendeckende Nachuntersuchung geben muss.“ Rechte Gewalt müsse auch als | |
solche benannt werden, betont Kusche. „Nur so lässt sich eine wirkliche | |
Auseinandersetzung führen.“ | |
Ein Sprecher von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sagte, die | |
Berichte der Opferverbände über Todesopfer durch rechtsextreme Gewalt nehme | |
man „mit der gebotenen Aufmerksamkeit zur Kenntnis“. Anders als diese | |
Initiativen erfasse die Polizei politisch motivierte Straftaten indes in | |
einem „geregelten Verfahren“. Deshalb könne es durchaus zu „abweichenden | |
Schlussfolgerungen kommen“. | |
Im Fall Christopher W. bleibt derweil offen, welches Motiv die Chemnitzer | |
Richter in ihrem Urteil als ausschlaggebend für den Mord werten. | |
Verteidiger Uwe Lang bestreitet für seinen Mandanten Terenc H. nicht nur | |
ein politisches Motiv – sondern auch jede Tötungsabsicht: Da sein Mandant | |
Christopher W. nur eine Ohrfeige verpasst habe und den Rest des Geschehens | |
geschockt verfolgt habe, könne man ihm nur eine Körperverletzung und | |
unterlassene Hilfeleistung vorwerfen. | |
Das zumindest könnte das Gericht anders sehen. Denn wohin das Einprügeln | |
auf Christopher W. schließlich führen sollte, schien den Rechten klar | |
gewesen zu sein. Man solle es „zu Ende bringen“, soll einer von ihnen | |
während der Tat gerufen haben. Christopher W. leistete da längst keinen | |
Widerstand mehr. Aus Angst habe er sich gegen die Gewalt nicht gewehrt, | |
berichtete einer der Angeklagten der Polizei. | |
2 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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