# taz.de -- Nachtbus in Indien: Darum lieb’ ich alles, was grün ist | |
> Unsere Autorin fährt mit einem Nachtbus von der indischen Küste ins | |
> Landesinnere – und wünscht sich ein solches Verkehrsmittel auch in | |
> Europa. | |
Bild: „Wie hast du geschlafen?“, frage ich meine Freundin beiläufig, sie s… | |
Meine Haare sind noch nass vom Tag am Meer und Strand, einzelne Strähnen | |
kleben an der Stirn. Ich blicke rüber zu den blonden, längst getrockneten | |
Haaren meiner Freundin. Wie unfair, denke ich und hoffe, dass ich keine | |
Erkältung kriege. Dabei beträgt die Außentemperatur in Südindien auch nach | |
Sonnenuntergang noch deutlich über 20 Grad. | |
Wir sitzen auf den Treppenstufen eines Restaurants in Gokarna, als der | |
Greenliner um kurz nach zehn mit ein paar Minuten Verspätung ankommt. Der | |
Bus soll meine Freundin und mich über Nacht von der Küstenstadt [1][ins 500 | |
Kilometer entfernte Bangalore] bringen, wo wir auf der Hochzeit einer | |
Freundin eingeladen sind. Der Bus macht seinem Namen alle Ehre: Außen weiß | |
mit grüner Beschriftung, innen neongrün leuchtend. | |
Als ich einsteige, denke ich noch kurz an unheimlich beleuchtete Schulen in | |
japanischen Horrorfilmen. Hier wirkt das grüne Neonlicht aber viel | |
freundlicher und macht direkt Partylaune – auch wenn keine Musik läuft. | |
Links vom Gang in der Mitte befinden sich die Doppelbetten, rechts | |
Einzelbetten. Unsere Bettnummern U2 und U3 entdecke ich direkt oben links | |
hinter dem Busfahrer. Die weißen Laken sind frisch bezogen, die hellbraunen | |
Decken liegen sauber gefaltet am Fußende. | |
Meine Freundin parkt ihren Koffer unten beim Gepäckträger ein, ich nehme | |
meinen Rucksack mit ans Bett, platziere ihn auf der großzügigen | |
Ablagefläche am Fußende und blicke triumphierend um mich. Die Betten sind | |
ausgestattet mit braunen Vorhängen, selbst zwischen den Doppelbetten kann | |
ich mir Privatsphäre schaffen. Im hinteren Teil liegen ein paar Fahrgäste | |
und haben ihre Vorhänge zugezogen. Sonst ist der Bus eher leer. | |
## Reis kitzelt an den Füßen | |
Meine Freundin steigt über mich und legt sich ans Fenster, den eingepackten | |
Biryani, gebratenen Reis, den wir beim Abendessen nicht aufessen konnten, | |
legt sie ans Fußende. Den halben Tag über war sie skeptisch, weil dieser | |
Nachtbus keine Toilette hat. Ist es dringend, muss man dem Busfahrer | |
Bescheid geben, um irgendwo frei pinkeln zu können. Das hasst sie aber. | |
Hinzu kommt die Sorge, dass der Bus ohne sie weiterfahren würde. | |
Entweder ist es meine Begeisterung, die sie ansteckt, oder es ist der Bus | |
selbst: Jedenfalls scheint meine Freundin auch allmählich Freude an der | |
Fahrt zu finden. Die Vorhänge, die wir noch nicht zugezogen haben, flattern | |
in jeder Kurve. Auch der Biryani rutscht hin und her, jedes Mal, wenn er | |
auf meine Seite rutscht, kitzelt er meine Füße. Draußen ist es stockdunkel. | |
Innen die grüne Partyleuchte. | |
Wir liegen nebeneinander und überlegen, wie wir diesen tollen Nachtbus auch | |
in Europa einführen könnten. Während ich für ein Deutschlandmodell | |
plädiere, denkt sie gleich international. „Es müssten Strecken von Berlin | |
nach Paris angeboten werden“, sagt sie. Der Sinn des Ganzen sei Tourismus, | |
und inländische Routen seien für Nachtstrecken nicht lang genug. | |
## Was, wenn jemand Sex hat?! | |
Während im Gehirn der Freundin ein [2][Geschäftsmodell] gedeiht, geht | |
meines langsam in den Ruhemodus. Ich schließe die Augen und ziehe die | |
Bettdecke über mich. „Willst du etwa schon schlafen?“, fragt sie empört. | |
Als sei das ein Unding, nachts, in einem Bett. Ich ziehe die Vorhänge zu | |
und kuschle mich ein. Es fühlt sich an wie damals als Kind, als man aus | |
Decken und Laken eine Höhle gebaut hat. | |
Ich werde ein zweites Mal beim Einschlafen gestört, als meine Freundin | |
plötzlich ihre Gedanken laut ausspricht: „Wie verhindert man denn, dass | |
Paare in so einem Bus Sex haben?“ Vor allem geht es ihr darum, nicht mehr | |
als unbedingt nötig Körperflüssigkeiten auf den Bettlaken zu haben. | |
Wir überlegen, dass Fahrgastkontrolle durch Buspersonal wegen der | |
zugezogenen Vorhänge schwierig wäre. Meine Freundin schlägt vor, Bilder von | |
lächelnden alten Menschen an die Decke zu kleben, die einen an die | |
Großeltern erinnern. Schließlich entscheidet sie sich für Infoflyer zu | |
sexuell übertragbaren Krankheiten: „Das sorgt gleichzeitig auch für | |
Aufklärung.“ | |
## Seitenlanges Konzept für Europa | |
Letztendlich bringen Aufklärungsflyer aber nichts, wenn Erbrochenes, | |
Schweiß oder Menschen mit Blasenschwäche – und was sonst so in einem | |
Nachtbus alles an Körperflüssigkeiten ausgeschüttet werden könnte – nicht | |
verhinderbar sind. Die Lösung für das Nachtbus-Geschäftsmodell lautet also: | |
Viel und gute Investition in Hygiene und Putzkräfte. Ich nicke ab und | |
überlasse den Rest des Geschäftsmodells ihren Gehirnzellen. Ich träume | |
davon, dünne [3][Tampons] als Munition in einen Revolver zu schieben, als | |
mich ein Wecker weckt. | |
Jedenfalls denke ich, dass mich ein Wecker weckt. Stattdessen ist es die | |
Freundin, die mich am Arm stupst. „Wir sind da“, sagt sie. Draußen dämmert | |
es, es wird langsam hell. Ich schaue aufs Handy, es ist 6 Uhr morgens, wir | |
sind sogar eine Stunde zu früh da. Der Bus ruckelt heftig. Mich überrascht, | |
dass mich der Fahrstil zu keinem Moment in der Nacht geweckt hat. | |
„Wie hast du geschlafen?“, frage ich meine Freundin beiläufig, sie schaut | |
finster und antwortet: „Gar nicht.“ Ihre drückende Blase habe sie um den | |
Schlaf gebracht, um sich abzulenken, entwickelte sie ein gesamtes Konzept | |
für diese Busfahrt. Sie zeigt mir ihre Notizen auf dem Handy, die sind | |
seitenlang. Ich nicke beeindruckt: „Oha. Nicht schlecht.“ | |
## Die Luft ist feucht, die Sonne versteckt sich | |
Hätten wir Internet im Bus gehabt, hätte sie noch nachlesen können, dass in | |
Deutschland ein Paragraf der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung (StVZO) | |
Liegebusse unmöglich macht, nämlich „§ 35i Gänge, Anordnung von | |
Fahrgastsitzen und Beförderung von Fahrgästen in Kraftomnibussen“. Aber | |
auch, dass das Schweizer Unternehmen „Twiliner“ bis 2026 ein Nachtbus-Netz | |
in Europa inklusive deutschen Städten aufbauen will, mit Luxussesseln, die | |
bis in die Horizontale geklappt werden können. Aktuell suchen sie aber noch | |
Investor:innen. | |
In Bangalore ruft der Assistent des Busfahrers laut die Stationsnamen, wir | |
steigen auf gut Glück irgendwo mittig in der Stadt aus. Die Luft ist | |
feucht, über der Stadt hängt ein Nebel, oder vielleicht ist es doch Smog. | |
Dahinter versteckt sich noch die Sonne. Ich strecke mich und setze den | |
Rucksack auf. | |
2 Apr 2023 | |
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## AUTOREN | |
Shoko Bethke | |
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