# taz.de -- Nachlass-Album von Dr. John: Der vielseitige Doktor | |
> Drei Jahre nach seinem Tod erscheint mit „Things Happen That Way“ ein | |
> Werk aus dem Nachlass des Pianisten aus New Orleans. | |
Bild: Der, der alles konnte: Voodoo-Rocker Dr. John | |
Man hatte eigentlich nicht mehr damit gerechnet, aber nun, drei Jahre nach | |
seinem Tod, erscheint mit „Things Happen That Way“ ein letztes Studioalbum | |
von Dr. John. In den Monaten [1][vor seinem unerwarteten Tod im Juni 2019] | |
hatte der US-Künstler daran gearbeitet, seine Tochter Karla Pratt half nun, | |
das Album zu vollenden. | |
„Things Happen That Way“ ist als Country-Album angekündigt. Der Meister des | |
Voodoo Funk, Lordsiegelbewahrer der New-Orleans-eigenen Piano-Kunst, einer | |
der letzten wahren Akademiker der populären Musik als Country-Sänger? Wie | |
mag das klingen? | |
[2][Seine größte Leistung war es ja, sich selbst zu erfinden.] Zu sagen, | |
ich war Malcolm „Mac“ Rebennack, der vielseitig einsetzbare Studiomusiker, | |
der es als Teenager in New Orleans ins A-Team geschafft hat und dem dies | |
auch mit Anfang 20 in Los Angeles gelang. Doch das reichte ihm nicht. Und | |
so forderte er als Dr. John, The Night Tripper, der „Gris-Gris Man“, einen | |
der vorderen Plätze in der popkulturellen Ahnenreihe, nahe den Gottgleichen | |
und Schamanen. | |
## Schillernde Kunstfigur Dr. John | |
So in etwa der Mythos von der Geburt des Dr. John Creaux, der schillernden, | |
unauthentischen Kunstfigur, die sich relativ schamlos und nicht immer ganz | |
ernsthaft, eher exotisierend und – dem Zeitgeschmack entsprechend: | |
psychedelisierend – bei den Mythen und Kulten seiner Heimatstadt New | |
Orleans bediente. | |
Zum Geraderücken muss man sich hinter der Geschichte einen 1941 geborenen | |
frustrierten Studiomusiker denken, der tagsüber denkwürdige Sessions für | |
Sam Cooke oder Frank Zappa spielt, aber nach Verlassen des Studios keine | |
strahlende Popstar-Existenz lebt, sondern in den ungesicherten und | |
künstlerisch unbedeutenden Feierabend eines weisungsgebundenen Handwerkers | |
zurückkehrt. | |
Der schließlich mit seinen alten Buddys Harold Battiste und Ronnie Barron | |
die Idee eines Psychedelia-kompatiblen Voodoo-Hohepriesters als möglichen | |
Weg ins Popstartum – oder zumindest in eine auskömmliche selbstbestimmte | |
Künstlerexistenz – ausbaldowerte. Ein Weg, der Barron vorherbestimmt | |
schien. Doch der kam aus seinem Plattenvertrag nicht heraus, so dass | |
notgedrungen Rebennack den Doktortitel übergestreift bekam. | |
## Voodoo und Bewusstseínserweiterung | |
Und er machte es richtig gut. Dr. Johns Debütalbum „Gris-Gris“ artikulierte | |
1968 diesen verführerischen, aber unsicheren Zustand zwischen | |
übernatürlicher Beglückung und tödlicher Bedrohung. Wie kaum ein anderes | |
Werk dieses geschichtsschweren Jahres klang es nach einer durch | |
psychedelische oder Voodoo-Helferlein herbeigeführten | |
Bewusstseinserweiterung. | |
Aber irgendwann war es dann gut damit. „Dr. John“ blieb ein gutes | |
Pseudonym. Aber der Doktor stellte bald fest, dass das kulturelle Erbe auch | |
noch weitere Seiten hatte, die sich makellos und mit weniger karnevaleskem | |
Aufwand vermarkten ließen. Und die ihn künstlerisch vielleicht mehr | |
interessierten und inspirierten. | |
Funk etwa. Seine vielleicht besten Alben, „In the Right Place“ und | |
„Desitively Bonnaroo“, 1973 und 1974 mit Allen Toussaint und The Meters | |
kongenial realisiert, führten das Genre zu künstlerischen Höhen, wie es | |
zeitgleich nur Sly Stone und Shuggie Otis schafften. | |
Auch eine relaxte Yacht-Rock-Variante gelang ihm Ende der 1970er Jahre für | |
die zwei Alben „City Lights“ und „Tango Palace“ auf dem A&M-Label gut. | |
Danach war es dann jedoch erst mal für eine Weile vorbei mit Major-Labels | |
und konzeptuellen Neuentwicklungen. Stattdessen gab es Solopiano „New | |
Orleans Style“ – auch als Fernkurs auf Lern-Kassette! Sowie eine | |
Rückbesinnung auf die traditionellen Styles der Stadt in Gemeinschaft mit | |
dem britischen Trad-Jazzer Chris Barber. | |
## „Great American Songbook“ | |
Aus dieser Phase kam Dr. John heraus, indem er sich darauf besann, was er | |
in seiner Studiomucker-Vergangenheit gelernt hatte. Nämlich | |
Auftragsarbeiten unterschiedlichster Ausprägung wunschgemäß auszuführen. | |
Plattenfirmen und Musikproduzenten fingen nun an, bei ihm Musiken zu | |
unterschiedlichen Themen und für diverse Genres zu bestellen. Und er | |
lieferte. Warner Brothers und Erfolgsproduzent Tommy LiPuma fanden, der | |
Doktor solle sich als Interpret des „Great American Songbook“ versuchen. | |
Er tat es und gewann mit „In a Sentimental Mood“ 1989 seinen ersten Grammy. | |
Und wenn EMI in Gestalt von Jason Pierce aka J. Spaceman (of | |
Spaceman-3-fame) und Erfolgsproduzent John Leckie auf der anderen Seite des | |
Atlantiks meinten, die „Gris-Gris“-Geschichte sei noch nicht auserzählt und | |
der Doktor möge sich doch bitte noch mal in die Gemütslage seines | |
Debütalbums zurückversetzen, so fand er sich auch dazu bereit („Anutha | |
Zone“, 1998). | |
Und wenn Dan Auerbach (Black Keys) und Warners Gourmet-Abteilung Nonesuch | |
zu dem Ergebnis kamen, er habe das Thema New Orleans noch nicht erschöpfend | |
bearbeitet, konnte er auch diesen Job zur Zufriedenheit seiner Auftraggeber | |
erledigen („Locked Down“, 2012). | |
## Country Album | |
In diesem Zusammenhang darf man wohl auch die Idee eines Country-Albums | |
verstehen. Dr. John entwickelte sie zusammen mit dem (mittlerweile auch zu | |
Universal gehörenden) traditionsreichen Roots-Label Rounder Records und dem | |
in New Orleans geborenen und musikalisch geprägten Studiogitarristen Shane | |
Theriot. Dessen Hauptjob ist derzeit die Leitung der Live-Band der | |
Seventies-Superstars Hall & Oates. Wie viele Ideen entwickelte auch diese | |
anscheinend mit der Zeit eine gewisse Autonomie. | |
Am Ende ist „Things Happen That Way“ nicht wirklich ein Country-Album | |
geworden, auch wenn eine Menge Country-Klassiker ins Repertoire genommen | |
wurden. Vielmehr überführt der Doktor diese größtenteils sehr alten | |
[3][Genre-Klassiker von Hank Williams], Willie Nelson und Johnny Cash in | |
sein eigenes musikalisches Universum. Was etwa bei einem Jazz-nahen Song | |
wie Nelsons „Funny How Time Slips Away“, der das Album eröffnet, mühelos | |
vonstatten geht. | |
Auf Hank Williams’ „Ramblin’ Man“ eine sumpfige Voodoo-Atmosphäre zu l… | |
funktioniert ebenfalls verblüffend gut. Und im Duett [4][mit Willie Nelson | |
(der wird nächstes Jahr 90!)] zu bekennen: „Give me that old time religion | |
/ It was good for our mothers / It is good enough for me“, hat etwas | |
geradezu Steinerweichendes. Stilistisch spielt sich das alles aber noch in | |
vertrautem Territorium ab. | |
So richtig tief in Country-Ländereien dringt Dr. John erst bei „I’m So | |
Lonesome I Could Cry“ vor. Da nimmt er sogar Steel-Gitarren mit in die | |
Rezeptur und transportiert den Song in eine Tonart, die eigentlich zu tief | |
für seine nicht problemlos gealterte Stimme ist. Das sorgt aber wohl mit | |
dafür, dass diese Interpretation ein Höhepunkt des Album ist. | |
Davon hätte man gerne etwas mehr gehört, während man auf die Neuaufnahme | |
des „Gris-Gris“-Herzstücks „I Walk on Guilded Splinters“ hätte verzic… | |
können. Hier dürfen sich Willie Nelsons Sohn Lukas und seine Band Promise | |
of the Real austoben. Sie ziehen das Stück aus dem Sumpf, doch | |
relokalisieren sie es mit Rock-Gitarrenklischees in einer | |
Redneck-Bierschwemme. | |
## Funk und Blues | |
Der überwiegende Rest der Songs ist im bewährten NOLA-Idiom gehalten. Man | |
oszilliert zwischen Funk und Blues, während aus den Bläser- und | |
Background-Gesangsarrangements [5][der Geist von Allen Toussaint] spricht. | |
Man hätte Dr. John bei seinem Abschiedsalbum ein klein wenig mehr | |
Risikobereitschaft gewünscht. Ein klein wenig mehr Steel Guitar. Ein | |
bisschen weniger Komfortzone und prominente Gäste. Ein Meisterwerk ist das | |
Album so nicht geworden. Aber immerhin ein amtliches Stück Handwerksarbeit. | |
Und ein würdiger Abschied von einer großen US-Musikerpersönlichkeit. | |
29 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Detlef Diederichsen | |
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