# taz.de -- Nachhilfesektor in China: Gut gemeint, schlecht umgesetzt | |
> Mit der Zerschlagung des Nachhilfesektors sollten Bildungschancen fairer | |
> werden – bislang erfolglos. Ein Blick nach Südkorea erklärt, warum. | |
Bild: Versuch, den gleichen Ton zu treffen: Musikunterricht in einer Grundschule | |
Peking taz | Die Urangst vieler chinesischer Eltern hat Staatschef Xi | |
Jinping verstanden. „Eltern hoffen, dass ihre Kinder eine glückliche | |
Kindheit haben, aber sie fürchten, dass sie beim Wettbewerb um gute Noten | |
bereits an der Startlinie Boden verlieren“, sagte er im März, und brachte | |
damit auf den Punkt, was vielen schlaflose Nächte bereitet – und worauf das | |
Geschäftsmodell der boomenden Nachhilfeinstitute im Land basiert. | |
Bis vor Kurzem lag deren Marktwert noch im dreistelligen Milliardenbereich. | |
Doch Ende Juli holte Pekings Staatsführung zum allumfassenden | |
[1][Regulierungsschlag] gegen die kommerzielle Industrie aus. Sämtliche | |
Nachhilfefirmen müssen sich nun als gemeinnützig deklarieren, dürfen keine | |
Profite mehr machen und generell keinen Unterricht mehr während der | |
Ferienzeiten anbieten. | |
Die Intention Pekings ist es, die [2][Bildung des Landes] unabhängiger vom | |
Einkommen der Eltern zu gestalten und den finanziellen Druck auf die | |
Mittelschicht zu lockern. Dass die Umsetzung jedoch genau zum Gegenteil | |
führen könnte, hätten die chinesischen Politikplaner ahnen können, wenn sie | |
nur ins benachbarte Südkorea geschielt hätten. | |
Seit Jahrzehnten versuchen dort etliche Regierungen, den im Vergleich sogar | |
noch exzessiveren Nachhilfesektor zu regulieren. Laut Angaben des | |
koreanischen Statistikamts von 2019 nehmen knapp drei Viertel aller | |
Schülerinnen und Schüler des Landes außerschulische Nachhilfe in Anspruch. | |
Wie aus OECD-Daten hervorgeht, sind die durchschnittlichen Ausgaben für | |
Privatbildung pro Kind in keinem anderen asiatischen Land so hoch wie in | |
dem am Han-Fluss. | |
## Schon seit Jahrzehnten | |
Bereits 1980 hatte sich der südkoreanische Präsident Chun Doo-hwan, der | |
letzte autoritäre Machthaber vor der Demokratisierung des Landes, des | |
Problems angenommen. Als praktisch erste Amtshandlung verbot er sämtliche | |
außerschulische Privatbildung. Seine Intention war schon damals ähnlich wie | |
die der chinesischen Regierung 40 Jahre später: Die Bildungschancen sollen | |
auch für benachteiligte Bevölkerungsschichten fairer werden und die | |
finanziellen Belastungen für die Eltern geringer. Diese sind schließlich | |
mit ein Grund für die geringen Geburtenraten des Landes. | |
Bis zur Jahrtausendwende wurde das Verbot – einige Lockerungen ausgenommen | |
– aufrechterhalten. Razzien waren in den 90er Jahren üblich, genau wie | |
finanzielle Strafen und in einigen Fällen Haft für erwischte Lehrkräfte. | |
Zudem wurden nicht wenige Rucksacktouristen, die sich illegal als | |
Englischlehrer etwas dazuverdienen wollten, des Landes verwiesen. | |
Doch schlussendlich scheiterte die Strategie der Regierung auf ganzer | |
Linie. Denn die wohlhabenden Schichten Südkoreas fanden immer | |
ausgefallenere Schlupflöcher, wie sie die Gesetze umgehen konnten. „Nichts | |
wird jemals zwischen Koreanern und der Bildung ihrer Kinder stehen“, | |
schreibt der mittlerweile in den USA lebende Blogger T.K. von Ask a Korean | |
auf seinem Twitter-Account: „Das Einzige, was das neue Gesetz brachte, war, | |
die Preise von privater Nachhilfe in die Höhe zu treiben.“ | |
Sein eigener Vater habe ebenfalls davon profitiert: Nach seinem Tagesjob | |
als Oberschullehrer verdiente er sich durch illegale Nachhilfestunden am | |
Abend sein erstes Eigenheim. Dabei stieg er meist durch die Hintertüren in | |
die Häuser seiner wohlhabenden Kunden, um nicht gesehen zu werden. | |
## Verfassungsgericht gegen Nachhilfeverbot | |
Kurz nach der Jahrtausendwende schließlich hob das koreanische | |
Verfassungsgericht das Nachhilfeverbot vollständig auf. Das Verbot verstoße | |
gegen das Grundrecht der Bevölkerung, seine Kinder zu bilden, entschied das | |
Gericht. Doch das Thema war damit noch längst nicht vom Tisch. | |
Strenge Regeln galten weiterhin: So blieb es verboten, „überteuerte Preise“ | |
für Nachhilfestunden zu verlangen. Vor rund einer Dekade setzte die | |
konservative Regierung unter Lee Myung-bak durch, dass private | |
Nachhilfeinstitute maximal bis zehn Uhr am Abend geöffnet sein dürfen, um | |
den Kindern genügend Schlaf zu sichern. | |
Doch sämtliche Verbote und Regulierungen brachten bis heute wenig: Die | |
Bildungsausgaben koreanischer Eltern sind nach wie vor auf Rekordniveau, | |
die Geburtenraten aufgrund der finanziellen Belastungen weiterhin niedrig | |
und etliche junge Kinder leiden bis heute unter dem immensen | |
Leistungsdruck. | |
Auch in China zeichnet sich knapp einen Monat nach der Neuregelung ab: gut | |
gemeint, aber schlecht umgesetzt. Denn die Auswirkungen bezwecken das | |
genaue Gegenteil des Intendierten. Sie treiben die Branche in den | |
Untergrund und kreieren Schlupflöcher, von denen vor allem die Superreichen | |
profitieren. | |
## Finanzieller Druck bleibt | |
Die chinesischen Nachhilfeunternehmen sind kreativ geworden, um die | |
Regelungen zu umgehen. Da das Verbot nur die Kernfächer – etwa Chinesisch | |
und Mathematik – umfasst, haben einige Institute ihre Klassen schlicht | |
umbenannt, um nicht mehr darunter zu fallen. Der Matheunterricht wird dann | |
beispielsweise kurzerhand zum Logikunterricht. | |
Wieder andere haben sich darauf spezialisiert, künftig Schulungen für | |
Eltern anzubieten, damit diese dann ihren Kindern Nachhilfe geben können. | |
Zudem gibt es bislang nach wie vor einen Graubereich, der noch nicht von | |
den Gesetzeshütern erfasst wurde: Privat organisierter Einzelunterricht | |
wird nach wie vor geduldet. Dieser ist meist um ein Vielfaches teurer als | |
Nachhilfeinstitute und sorgt damit erst recht für einen Wettbewerbsvorteil | |
der Reichen. | |
Laut einer aktuellen Umfrage, die auf der Online-Plattform Weibo | |
durchgeführt wurde, gaben 70 Prozent aller Befragten an, dass die | |
Neureglungen nicht dabei helfen würden, den finanziellen Druck für die | |
Eltern zu reduzieren. Nur 18 Prozent sahen das anders. | |
Nicht zuletzt hat die Neuregelung für Unruhe unter den Lehrkräften gesorgt, | |
die quasi über Nacht ihrer wirtschaftlichen Existenzgrundlage beraubt | |
wurden. Laut der Hongkonger NGO „China Labour Bulletin“ kam es seit Ende | |
Juli bereits zu zehn dokumentierten Protestvorfällen – so vielen wie noch | |
nie, seit die Daten im Januar 2019 erhoben werden. Oftmals handelt es sich | |
dabei um Lehrkräfte, die in den sozialen Medien auf ihre prekäre Situation | |
aufmerksam machen: Die Nachhilfe-Institutsleiter sind quasi über Nacht | |
spurlos verschwunden, ohne die Gehälter ihrer Angestellten auszuzahlen. | |
## Gesellschaftliche Konventionen | |
Genau wie in Südkorea zeigt sich nun auch in China, dass das Problem nur an | |
der gesellschaftlichen Wurzel gelöst werden kann: In beiden ostasiatischen | |
Staaten lautet die gesellschaftliche Konvention, dass nur ein guter | |
Universitätsplatz zu einem gut bezahlten Arbeitsplatz führt. Alternative | |
Lebensmodelle sind hingegen mit einem Stigma belegt. In den daraus | |
resultierenden ultrakompetitiven Systemen werden die reichen Schichten | |
immer Wege finden, um sich einen Vorteil zu verschaffen. | |
Eine mögliche Lösung sieht Chinas Staatsführung im sogenannten deutschen | |
Weg: Man möchte sich stärker am dualen Ausbildungssystem orientieren, das | |
schon bald flächendeckend in der Volksrepublik implementiert werden könnte. | |
Die „Verschmelzung von Industrie und Bildung“ möchte die Kommunistische | |
Partei anstreben, wie es in einem jüngsten Gesetzentwurf heißt. Dies solle | |
auch den akademischen Leistungsdruck der Jugend schmälern. | |
Doch fraglich bleibt, ob die Maßnahmen auch von der Bevölkerung akzeptiert | |
werden. Im Juni wollten bereits einige Lokalregierungen bestimmte | |
Universitäten zu berufsbildenden Schulen umbauen – und lösten damit | |
handgreifliche Proteste von erbosten Studierenden und Eltern aus. Die | |
wütenden Demonstranten trieb die Angst um, dass ihr Abschluss auf dem | |
Arbeitsmarkt künftig weniger wert sein würde. | |
27 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Fabian Kretschmer | |
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