# taz.de -- Nach dem Wagner-Aufstand: War was? | |
> Nach dem kurzen Aufstand des Wagner-Chefs Jewgeni Prigoschin herrscht in | |
> Russland wieder Alltag. Der besteht aus Ignoranz und Anpassung. | |
Bild: Küsschen für die Kamera: Dieses Bild verbreitete die staatliche russisc… | |
Die Menschen drängen nach vorn. Sie zücken ihre Mobiltelefone, sie rufen. | |
Auf die wummernde Musik und die bunt angeleuchteten Wasserspiele im Brunnen | |
nebenan achtet niemand. Alle wollen nur ihn sehen, ihn anstrahlen und | |
anfassen: ihren starken Mann. „Leader“ nennen viele Russinnen und Russen | |
ihren Präsidenten. „Mach ein Bild, Mama!“, schreit eine Jugendliche. „Ma… | |
doch.“ Die Mama macht. Und Russlands TV-Nation bekommt ein Bild, wie | |
Wladimir Putin eine Jugendliche auf die Schläfe küsst. | |
Am Mittwochabend zeigt das russische Staatsfernsehen Aufnahmen, wie der | |
Präsident – für ihn sehr ungewöhnlich – in der Kaukasusrepublik Dagestan | |
ein Bad in der Menge nimmt. Er sei nach Derbent am Kaspischen Meer gereist, | |
um sich um Tourismusfragen zu kümmern, teilt der Kreml mit. | |
In den sozialen Netzwerken wird das Bild der Jugendlichen mit dem | |
Präsidenten bejubelt. „Du bist toll, Fatima, solchen prächtigen Nachwuchs | |
braucht unser Land“, kann man da lesen. Es ist die bizarre Inszenierung | |
eines Führerkults. „Fatima“ erzählt dem Staatsfernsehreporter, wie sie | |
sieben Stunden lang gewartet hat: „Nur auf ein Foto mit ihm. Das ist so | |
unglaublich.“ | |
Putin, der Liebling der Nation, getragen vom Volk, das ihm zujubelt und ihn | |
feiert.[1][War da was? Risse im System?] Gesichtsverlust? Der Kreml tut in | |
den Tagen nach der Kurzzeitrevolte von Jewgeni Prigoschin, dessen Kämpfer | |
seiner Wagner-Privatarmee gen Moskau marschiert waren, alles, um die | |
Schwäche des Präsidenten in Stärke umzumünzen. So, als würde ein | |
Bauarbeiter eine verrostete Bank im Frühling einfach mit Farbe überpinseln. | |
Je bröckelnder die alte Schicht, desto mehr frische Farbe drauf, schon | |
sieht die Bank wie neu aus. Aus der Ferne zumindest. | |
## „Schicksalbestimmende“ Reden | |
Am vergangenen Samstag besetzte Prigoschin mit seinen Panzern und Tausenden | |
von Kämpfern das Zentrum der südrussischen Stadt Rostow am Don an der | |
Grenze zur Ukraine und forderte das „Mistvieh“ Sergei Schoigu, wie er den | |
russischen Verteidigungsminister seit Monaten beschimpft, heraus. Seitdem | |
ist Putin täglich auf Sendung. Er hält Reden, die als | |
„schicksalsbestimmend“ angekündigt werden, dann aber in fünf Minuten nur | |
das zusammenfassen, was er bereits zuvor gesagt hatte. | |
[2][Putin dankt Soldaten und dem ganzen Volk], einen „De-facto-Bürgerkrieg“ | |
gestoppt zu haben – auch wenn in den bangen Samstagsstunden niemand für ihn | |
öffentlich Partei ergriffen hatte. Er lässt sich schnell in den | |
Nordkaukasus fliegen, um sich in der Menge filmen zu lassen, mag er auch | |
sonst alle, die ihm näher kommen dürfen, vorab eine Woche in Quarantäne | |
schicken. | |
Er zeigt sich danach gleich auf einem Forum in Moskau, so dass die Stadt im | |
Stau versinkt, weil alle zentralen Straßen teilgesperrt werden. Er trifft | |
sich mit dem Sicherheitsrat, er redet, er weist an, er hüstelt. | |
## Den Kontrollverlust vergessen lassen | |
Die Kameras des Staatsfernsehens sind stets dabei. Prigoschin hat sich | |
selbst überschätzt mit seiner Meuterei. Trotzdem hat er Putins | |
Herrschaftsmethode demaskiert, die auf der Illusion aufbaut, der Präsident | |
habe immer alles im Griff und garantiere Stabilität. Dieser Eindruck des | |
Kontrollverlusts vom vergangenen Samstag soll nun wieder verschwinden. | |
Das funktioniert schnell. Die Ignoranz und Gleichgültigkeit vieler | |
Russinnen und Russen war auch am Aufstandssamstag gegenwärtig. In den Tagen | |
danach geht das Leben in der Hauptstadt seinen empathielosen Gang. Wie seit | |
Kriegsbeginn. Die Menschen nehmen die Nachrichten hin, gewöhnen sich nach | |
und nach an die Propaganda. Manche stöhnen: „Ich bin einfach nur müde, ich | |
will das alles nicht mehr hören. Es betrifft mich nicht.“ Zurück bleibt oft | |
nur eine Verwunderung: „Warum mag uns die Welt denn nicht? Was haben wir | |
den Leuten getan?“ | |
Im Moskauer Gorki-Park herrscht Wochentag-Seelenruhe. Familien sind | |
unterwegs, die Musik spielt, ein paar Jugendliche rasen mit ihren E-Rollern | |
über die breiten Wege. Die Karussells drehen sich, es gibt Eis und Mais. | |
Und eine sommerliche Brise von der Moskwa her. „Wir leben einfach im | |
Moment, genießen das Leben“, sagt Jekaterina auf einer Bank, einen | |
Kaffeebecher in der Hand. | |
Hochzeitsfotografin ist sie, hat am Tag, als Prigoschin die Waffen gegen | |
die eigene Seite richtete, den ganzen Tag in einem Hotel ein Brautpaar und | |
seine Gäste fotografiert. In Rostow schrieb ihre Tante sich derweil die | |
Finger wund. „Sie wollte uns in Moskau beruhigen, und ich hatte eh keine | |
Zeit, mich mit all der Politik zu beschäftigen. Ist nicht meins, ich | |
verstehe einfach nichts davon.“ | |
Jekaterina sagt, es sei nicht an ihr, „zu urteilen, wer Recht“ habe. „Wir | |
müssen immer aufseiten unseres Präsidenten sein. Einfach, weil wir Russen | |
sind und Putin unser Präsident ist.“ Sie ist 25 Jahre alt. Einen anderen | |
Menschen an der Spitze des Staats kennt sie nicht, auch wenn zwischendurch | |
Dmitri Medwedjew den Posten innehatte, im Hintergrund blieb stets Putin | |
der, der Stabilität versprach. Wie fragil sein System mit der | |
Teile-und-herrsche-Methode ist, führte Prigoschin aber in wenigen Stunden | |
vor. | |
## „Die paar Panzer!“ | |
„Wir sind nur Beobachter der Situation, wir sind keine Akteure“, sagt | |
Jekaterina auf der Parkbank. Die Situation am Samstag habe sich für sie so | |
dargestellt: „Ein Kerl zieht los, irgendwas läuft nicht so. Der Kerl | |
scheißt drauf und zieht wieder ab.“ Gefahren für ihr Land? Ihr Leben gar? | |
„Na ja, die paar Panzer! Was haben die mit mir zu tun?“ | |
Es ist [3][die Haltung vieler Menschen im Land]. Das System Putin hat das | |
Volk so weit demobilisiert, dass viele aus der Apathie nicht mehr | |
herauskommen, nicht herauskommen wollen. „Es hat mich wirklich genervt, | |
dass ich am Samstag aus dem Puschkin-Museum hinauskomplimentiert wurde. Was | |
sollte das? Rostow ist weit weg“, sagt Tatjana, 48. Als die Lage in Rostow | |
immer brenzliger wurde, hatte der Moskauer Bürgermeister Sergei Sobjanin | |
Museen und Parks der Stadt schließen lassen und den Montag zum | |
arbeitsfreien Tag erklärt. „Eine Notsituation“, hatte er gesagt und um | |
Verständnis gebeten. Das „Außergewöhnliche des Ganzen“ sei ihr bis heute | |
nicht klar, sagt Tatjana. Die Ausflugsschiffe auf der Moskwa ziehen an ihr | |
vorbei. | |
Eine Stadtführerin zeigt einer Besuchergruppe das Denkmal des sowjetischen | |
Dichters Maxim Gorki, nach dem der Park gegenüber des | |
Verteidigungsministeriums benannt ist. Sie schwingt begeistert mit den | |
Armen und liest ein Märchen von Gorki vor. Darin prahlen ein Teekessel und | |
ein Samowar um die Wette, wollen vor der Zuckerdose zeigen, wer mehr zu | |
sagen und zu bieten hat. Am Ende platzen beide. „Sie haben verloren, jeder | |
auf seine Weise“, sagt die Stadtführerin. Auf absurde Weise passt die | |
Erzählung in diese Fast-Staatsstreich-Tage. | |
Im Fernsehen beschreiben die Moderator*innen Prigoschin von Tag zu Tag | |
mehr als geldgierigen, überdrehten, von dummen Ambitionen getriebenen Mann, | |
der schließlich seine Kameraden belogen habe. Wer ihn erst so groß gemacht | |
hat und über Jahre hinweg gewähren ließ, sagen sie nicht. Denn Putin soll | |
strahlen, deshalb die Menge auf den Straßen von Derbent, der Kuss für | |
„Fatima“. Der von der Realität entfremdete Präsident soll im Volk baden. | |
Dass der Kreml hart gegen die Sympathisanten des Aufstands vorgehen soll, | |
dass gar General Sergei Surowikin, der Prigoschin in der Ukraine stets | |
unterstützt hatte, in Haft sein soll, solche Gerüchte sind offiziell kein | |
Thema. Es gilt, Normalität vorzugaukeln. | |
„Warum sollen wir denn in Panik verfallen? Das Leben geht weiter, auch im | |
Krieg“, sagt der 66-jährige Wjatscheslaw im Gorki-Park. Seine Frau Sinaida | |
fügt hinzu: „Wir waren so lange ruhig, wie eine Schlange. Aber wenn man der | |
Schlange auf den Schwanz tritt, beißt sie. Also beißen wir nun.“ Schade sei | |
nur, dass Prigoschin sich absetzen musste. „Mit ihm hatte Russland eine | |
tolle, starke Schlagtruppe. Siegen aber werden wir trotzdem!“ Im Gorki-Park | |
beginnt es zu nieseln. | |
30 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Inna Hartwich | |
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