# taz.de -- Mietenproteste in Berlin: Der Kiezdrache fletscht seine Zähne | |
> Eine Demo in Kreuzberg fordert mehr Mieter:innenschutz. Der Bund soll | |
> ihrem Drachen den Zahn des Vorkaufsrechts zurückgeben. | |
Bild: Widerständiger Laternenumzug gegen Verdrängung in Kreuzberg | |
BERLIN taz | Kreischend rennen die Kinder vor dem Ungetüm weg, das sich am | |
Samstagabend durch die Kreuzberger Straßen schlängelt. Immer wieder bleiben | |
sie stehen und bieten dem 10 Meter langen Drachen mit dem offenen Maul | |
Paroli. Todesmutig schreit ihm ein kleiner Junge entgegen: „Weg mit dir, du | |
grot…!“ – aber dann kommen ihm die riesigen Zähne doch zu nahe und er | |
ergreift mit seinen Genossinnen die Flucht. Wie der Satz wohl geendet | |
hätte? Weg mit dir, du … groteskes Mietenmonster? Du grottiges | |
Verwaltungsgericht? | |
Doch die beiden Drachen, die die Initiative Bizim Kiez jedes Jahr zum Leben | |
erweckt, stehen eigentlich auf der Seite der Kinder. Fumara und ihr | |
Drachenjunges Schnaub sind die mächtigen Verbündeten der Anwohnerinnen im | |
Kampf gegen den Mietenwahnsinn. Und sie werden auch dringend gebraucht, | |
denn in letzter Zeit mussten Mieter:innen eine Niederlage nach der | |
anderen einstecken. Mietendeckel gekippt, Vergesellschaftung auf Eis gelegt | |
– und nun hat das Bundesverwaltungsgericht auch noch das [1][Vorkaufsrecht | |
der Bezirke ausgehöhlt]. Langsam schwinden die Instrumente, um Mieten | |
bezahlbar zu halten und Verdrängung der Anwohnerinnen aus der Innenstadt zu | |
vermeiden. | |
Bea von Bizim Kiez treibt den Drachen durch fleißiges Pedaletreten an. Das | |
Urteil vom 9. November hätte sie – fast! – sprachlos gemacht: „Es gab ja | |
schließlich eine klare Forderung – die Abwendungsvereinbarung. Wenn Käufer | |
so eine Vereinbarung abgelehnen, weiß man genau, was passiert“, sagt sie. | |
Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts sei deswegen zutiefst | |
ungerecht und falsch. | |
Denn nach dem am Dienstag faktisch gekippten kommunalen Vorkaufsrecht in | |
Milieuschutzgebieten [2][droht vielen Berliner Mieter:innen die | |
Verdrängung] aus ihren Wohnungen: Bei einigen Vorkäufen, in denen noch | |
Klagen und Widersprüche laufen, drohen Rückabwicklungen. Zudem sind | |
deutlich mehr als 600 Wohnungen aus 32 derzeit laufenden Vorkaufsfällen vom | |
Urteil wohl direkt betroffen. Hier haben Land und Bezirke zumindest bis zur | |
Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts den Vorkauf geprüft. Betroffen | |
sind zehn Fälle in Neukölln, acht in Mitte, sieben in | |
Friedrichshain-Kreuzberg, fünf Fälle in Charlottenburg-Wilmersdorf und | |
jeweils einer in Pankow und Treptow-Köpenick. | |
## Kurz vor dem Vorkauf gestoppt | |
Eine Mieterin, die seit 32 Jahren in der Naunynstr. wohnt, war am Samstag | |
ebenfalls mit den Drachen auf der Straße. Auch ihr Haus soll verkauft | |
werden. Mit ihren Nachbar:innen war sie schon kurz davor, beim | |
Bezirksamt einen Vorkauf zu erreichen. „Aber was hat uns das jetzt | |
genutzt?“, fragt sie frustriert. | |
Was passieren kann, wenn die Stadt keine Möglichkeit mehr hat, den Verkauf | |
an profitorientierte Akteure zu verhindern, erfährt gerade der Kinderladen | |
„irgendwieanders“ in der Oppelner Straße, der dieses Jahr eine besonders | |
wichtige Station für den Drachen war. Der Eigentümer des Hauses will in den | |
nächsten drei Jahren die Miete gestaffelt auf letztendlich 17 Euro pro | |
Quadratmeter erhöhen. | |
„Das wäre für uns zu teuer“, sagt Nina Hofeditz, Leiterin und | |
Geschäftsführerin von „irgendwieanders“. Kinder, deren Eltern nicht beide | |
voll arbeiten, bekämen zur Betreuung weniger Geld. „Wir wollen aber auch | |
Kinder mit Fluchthintergrund, bei denen die Mutter vielleicht noch einen | |
Deutschkurs macht. Oder Kinder, bei denen die Mutter einfach Hausfrau ist – | |
ist ja auch völlig okay.“ Dafür müssten die Eltern dann im Kinderladen auch | |
mal putzen oder sich anderweitig einbringen. | |
## Soziales Zentrum im Kiez | |
Auch sonst leistet der Kinderladen schon lange wichtige Arbeit im Kiez: Als | |
2015 Geflüchtete in der Sporthalle einer Schule in der Nähe einquartiert | |
waren, habe der Kinderladen sie jeden Samstag eingeladen. Es wurde gekocht | |
und Deutschkurse fanden statt. Danach seien auch viele Kinder aus der | |
Unterkunft regulär in den Kinderladen gekommen. „Es ist wirklich mehr als | |
nur so ein Kinderladen. Das ist eine Art soziales Zentrum, ganz viele | |
Initiativen für den Kiez gehen von hier aus“, sagt auch ein Vater auf der | |
Demo. | |
Das Problem für den Kinderladen und vergleichbare soziale Einrichtungen | |
ist, dass sie demselben [3][Gesetz unterliegen wie alle anderen Gewerbe]. | |
Das heißt: Es gibt keine Deckelung der Miete, obwohl soziale Einrichtungen | |
keine profitorientierten Unternehmen sind. Angesichts der fehlenden | |
Kita-Plätze in der Hauptstadt ist diese Gesetzgebung problematisch. Genau | |
wie nun das Vorkaufsrecht kann dies nur bundesweit gelöst werden. | |
Der Kinderladen „irgendwieanders“ steht stellvertretend für eine ganze | |
Reihe von Mieterinnen, sozialen Einrichtungen und Kleingewerben, die aus | |
der Stadt verdrängt werden. Am Samstag laufen insgesamt um die 1.000 | |
Menschen mit den Drachen mit, um ihre Solidarität und ihre Frustration | |
auszudrücken – darunter auch Häuserinitiativen, die mit der Entscheidung | |
des Oberverwaltungsgerichts jede Hoffnung verloren haben, Vertreter der | |
Deutsche Wohnen enteignen. Auch die Schülerinnen Mascha und Pepper sind am | |
Samstag auch wegen ihres Kinderladens und wegen zu hoher Mieten auf der | |
Straße. | |
Mascha hofft: „Wenn wir sehr lange demonstrieren, ist die Mieterhöhung | |
vielleicht wenigstens nicht so hoch.“ Auf die Frage, ob sie glauben, dass | |
sie etwas bewegen können, folgt ein promptes „Ja!“, gleich gefolgt von | |
einem resignierten: „Na ja, manchmal hilft das, manchmal aber auch nicht.“ | |
14 Nov 2021 | |
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## AUTOREN | |
Gareth Joswig | |
Hanno Rehlinger | |
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