# taz.de -- Mehr Gewalt gegen Prostituierte: Ungeschützt | |
> Wegen Corona sind Bordelle zurzeit geschlossen. Viele Sexarbeiter*innen | |
> bieten ihre Dienste dennoch weiter an – und sind gefährdeter als sonst. | |
Bild: Anna Balog arbeitet trotz Corona weiter als Sexarbeiterin in Bremerhaven | |
BREMERHAVEN taz | Der erste Schlag trifft Anna Balog* am linken Auge. Es | |
ist Anfang Juli in einer Ferienwohnung in Bremerhaven. Die Bordelle sind | |
zu, also besucht Sexarbeiterin Balog ihren Kunden in seiner Wohnung. Im | |
Laufe des Besuchs fängt er an, sie zu schlagen. Als sie sich wehrt, greift | |
er ein Messer, fügt ihr Schnittwunden an den Armen und am Bauch zu. Sie | |
verlässt die Wohnung an diesem Abend blutend, ohne BH und ohne Schuhe. | |
Balog, schwarze Haare, schwarzes Kleid, schwarz lackierte Fingernägel | |
erzählt davon auf der Terrasse des Bulldog MLO. Das Café auf der | |
Lessingstraße in Bremerhaven ist der Treffpunkt für all jene, die ihre Nähe | |
zum Rotlichtmilieu nicht verstecken. Über dem Café wohnen einige der | |
Sexarbeiter*innen. Nebenan reihen sich Koberfenster, kleine Kabinen, in | |
denen auch Balog normalerweise bis zu acht Stunden am Tag arbeitet. Auf | |
knapp zehn Quadratmetern hat sie hier Bett, Stuhl, Spiegel und Dusche. „Ab | |
30 Euro“, werben Sticker an den Fenstern. In einer anderen Kabine hängt | |
eine Sexpuppe mit Strick um den Hals. „Corona“ steht auf dem Pappschild | |
unter der Puppe. | |
Seit Ende März sind die Bordelle in Deutschland geschlossen. Zehntausende | |
Prostituierte dürfen nicht arbeiten. Sowohl Berufsverbände als auch | |
Interessengruppen berichten, dass viele es trotzdem tun. Abseits der | |
offiziellen Strukturen, ohne Absicherung. Bringt das Verbot | |
Sexarbeiter*innen in Gefahr? | |
Balog arbeitet während der Pandemie weiter. Denn jeder Tag, an dem sie kein | |
Geld verdient, bringt sie weiter weg von ihrem Traum, ihre eigene Bäckerei | |
in Deutschland zu eröffnen. Mit ihrer Arbeit spart sie auf diesen hin – und | |
ernährt ihre Familie in Ungarn. 750 Euro schickt sie ihnen jeden Monat, | |
mindestens. | |
## 40.400 registrierte SexarbeiterInnen | |
Balog gehört zu den 40.400 Prostituierten, die offiziell in Deutschland | |
angemeldet sind. Die tatsächliche Zahl wird jedoch um ein Vielfaches höher | |
geschätzt, belastbare Zahlen gibt es nicht. | |
Wie es jenen geht, die unter prekären Bedingungen arbeiten, auf der Straße | |
oder in überteuerten Zimmern, weiß Sandra Kamitz. Sie leitet die | |
Beratungsstelle SeLA in Rostock. „Viele der Frauen, die unsere Hilfe | |
suchen, arbeiten weiter“, sagt Kamitz. Auf den Frauen laste ein enormer | |
finanzieller Druck, sie hätten Familien zu ernähren, oft auch Schulden zu | |
bezahlen. „Nicht zu arbeiten, ist für viele keine Option.“ | |
Dass einige Prostituierte trotz Verbots weiterarbeiten, bestätigen auch | |
Ministerien auf Anfrage der taz. Werbeanzeigen auf anonymen Plattformen, | |
Angebote für Hausbesuche und Outdoorsex und „Sonderwünsche gegen | |
Aufpreis“-Anzeigen seien jetzt häufiger zu sehen, schreibt das | |
Wirtschaftsministerium Schleswig-Holstein. Verstöße gegen die geltenden | |
Regeln seien im mittleren zweistelligen Bereich registriert worden. Das | |
Gesundheitsministerium NRW schreibt: „Nur weil Prostitution nicht | |
stattfinden darf, heißt das nicht, dass Prostitution tatsächlich nicht | |
stattfindet.“ Wie viel gearbeitet wird, weiß niemand. | |
Welche Folgen die Verdrängung in die Illegalität für Sexarbeitende haben | |
kann, hat die Deutsche Aidshilfe in einem Positionspapier beschrieben. Bei | |
der Arbeit im Verborgenen sei es schwierig, sich vor Gewalt und Infektionen | |
zu schützen. Für den regulären Betrieb gebe es hingegen Hygienekonzepte. | |
Das Verbot und die ökonomische Notlage würden außerdem die | |
Verhandlungsposition der Sexarbeiter*innen schwächen. Dumpinglöhne und der | |
Verzicht auf Safer Sex seien die Folge. „Es fehlen die klaren Spielregeln | |
und das Sicherungsnetz“, sagt Holger Wicht, Pressesprecher der Aidshilfe. | |
Im Bordell, aber auch auf der Straße, passen die Sexarbeiter*innen | |
aufeinander auf. Ohne diese Absicherung setzten sich die Sexarbeiter*innen | |
unbekannten Gefahren aus. | |
## „Er hatte etwas genommen“ | |
Was im schlimmsten Fall passieren kann, hat Balog erlebt. Anfang Juli, | |
gegen Mittag, ruft einer ihrer besten Kunden sie an. Der Immobilienmakler | |
Mitte 50 ist spendabel, lässt oft mehr als 200 Euro bei ihr. Sie kennt ihn | |
seit drei Jahren, hat ihn auch während der Pandemie schon mehrmals besucht. | |
„Nie ist etwas vorgefallen“, sagt sie. „Ich kannte ihn nur als vernünfti… | |
Deutschen, als Gentleman.“ Am Nachmittag holt er sie mit einem seiner Autos | |
ab. Sie fahren in seine Ferienwohnung. | |
„Er war hyperaktiver als sonst“, sagt Balog. „Er hatte etwas genommen, | |
hundertprozentig.“ Auch nach zwei Stunden sei er noch hart gewesen. Als sie | |
fertig sind, liegen sie nackt im Bett. „Ich geh schnell duschen“, habe sie | |
gesagt. Balog hatte sich noch keine paar Zentimeter bewegt, da spürte sie | |
schon den ersten Schlag im Gesicht. | |
Wenn sie davon erzählt, stockt sie leicht, blinzelt ein paarmal. „Ich war | |
wie blockiert, ich hätte das nie von ihm erwartet“, sagt sie. Auf den | |
ersten Schlag folgt ein zweiter, ein dritter. Sie fängt an sich zu wehren, | |
tritt nach seinem Gesicht. „Ich habe ihm ziemlich sicher die Nase | |
gebrochen“, sagt sie. Sie greift schnell ihre Klamotten, sucht die Tür. | |
„Dann kam er plötzlich mit einem Messer zurück“, sagt Balog. Er schneidet | |
sie am Bauch und an den Armen. Sie wehrt sich, schafft es bis ins | |
Treppenhaus. Dort zieht sie sich an. An den Weg nach Hause in die | |
Lessingstraße kann sie sich nicht mehr erinnern. Erst im Flur ihres Hauses | |
schafft sie es, eine Freundin anzurufen. | |
## Schnittwunden und blaue Flecken | |
Drei Tage lang konnte Balog nach dem Angriff nichts mehr hören. „Er hätte | |
mich umbringen können“, sagt Balog. „Er hatte die Möglichkeit.“ Ihre | |
Schnittwunden sind mittlerweile verheilt und die blauen Flecken | |
verschwunden, körperlich gehe es ihr wieder gut. „Aber psychisch nicht“, | |
sagt sie. Immer noch habe sie Angst, wieder arbeiten zu gehen. | |
Die Aussagen von Balog klingen plausibel. Sie zeigt Fotos von ihren | |
Verletzungen, Chatverläufe, in denen sie die Bilder noch am Abend des | |
Vorfalls an Freundinnen schickte. Eine Freundin bestätigt der taz, sie am | |
nächsten Tag mit ihren Verletzungen gesehen zu haben. Zur Polizei gegangen | |
ist sie jedoch nicht. „Er ist ein reicher Deutscher und ich bin nur eine | |
Prostituierte“, sagt sie. Dass sie mit einer Anzeige Erfolg hätte, glaubt | |
sie nicht. Sie macht vor allem die Schließung der Bordelle für den Angriff | |
verantwortlich. In ihrer Kabine habe sie ein Notrufsystem und ihre | |
Kolleginnen, die Alarm schlagen, wenn sie etwas hören. „Dort wäre mir das | |
nicht passiert“, sagt Balog. | |
Seit Wochen protestieren Sexarbeiter*innen gegen die anhaltende | |
Schließung ihrer Arbeitsstätten, zuletzt in Hamburg und Köln, in dieser | |
Woche in Stuttgart. Eine der Organisator*innen des Protests ist Stephanie | |
Klee vom Berufsverband Sexuelle Dienstleistungen (BSD). Die | |
Sexarbeiterin vertritt dort die Interessen der Bordelbetreiber*innen. | |
„Je länger die offiziellen Prostitutionsstätten geschlossen bleiben, desto | |
mehr wandert unser Geschäft in den illegalen Bereich“, sagt sie. Viele | |
Bordelle haben investiert, um die Auflagen des Prostituiertenschutzgesetzes | |
von 2017 zu erfüllen. „Und jetzt lässt die Politik einfach zu, dass ein | |
neuer, illegaler Sektor entsteht, während wir ruiniert werden“, sagt sie. | |
Die Politik, das sind in diesem Fall die Bundesländer. Auf taz-Anfrage | |
begründen fast alle die Schließung der Prostitutionsstätten mit zwei | |
Argumenten. Zum einen könne bei der Sexarbeit „intensiver Kontakt“ und | |
„gesteigerter Aerosolausstoß“ nicht vermieden werden. Zum anderen gebe es | |
erhebliche Zweifel daran, dass Kunden ihre richtigen Kontaktdaten | |
hinterlassen würden. Das Stigma der Prostitution mache eine verlässliche | |
Kontaktnachverfolgung unmöglich. | |
## Moralische Verurteilung | |
Stephanie Klee hält diese Argumente für vorgeschoben. „Die Politik glaubt, | |
dass Sexarbeit immer mit großen Partys, Drogen und Alkohol einhergehe“, | |
sagt sie. Dabei sei die Realität, dass Sexarbeiter*innen mit Kunden Termine | |
ausmachen und sich dann zu zweit auf ein Zimmer zurückziehen. „Dass das | |
gefährlicher sein soll als brechend volle Bars und Restaurants, glaub ich | |
nicht“, sagt sie. Dass ihre Branche eine Sonderbehandlung erfährt, hält sie | |
für einen Ausdruck der moralischen Verurteilung von Sexarbeit. Denn | |
Hygienekonzepte gebe es. Mund-Nasen-Schutz, eine Unterarmlänge Abstand | |
zwischen Gesichtern und Safer Sex sehen sie vor. Zumindest eine | |
Risikoreduktion sei damit möglich, sagt sie. | |
In Berlin waren die Appelle der Sexarbeiter*innen immerhin erfolgreich. Der | |
Berliner Senat erklärte, die Sexarbeit stufenweise wieder zuzulassen. Ab | |
dem 8. August sind sexuelle Dienstleistungen ohne Geschlechtsverkehr unter | |
Auflagen wieder erlaubt. Ab dem 1. September soll Geschlechtsverkehr wieder | |
möglich sein. Auch Bordelle dürfen dann öffnen, wie die Berliner Zeitung | |
berichtete. Bedingung seien feste Termine oder Maskentragen. | |
„Kontrollierbare Maßnahmen sind sinnvoller als eine Verdrängung ins | |
Dunkelfeld“, kommentierte die Gesundheitsverwaltung die Entscheidung. | |
„Der Job ist ohnehin hart, Corona macht ihn noch härter“, sagt Balog. Ein | |
bis zwei Jahre wollte sie ursprünglich noch arbeiten, sparen, um ihre | |
Bäckerei zu eröffnen. Jetzt musste sie einen Großteil ihrer Ersparnisse | |
aufbrauchen. Viel Zeit bleibe ihr nicht mehr, sagt sie. „Ich bin ja schon | |
33, und Kinder will ich auch noch.“ Sie klingt etwas verlegen, als stünde | |
es ihr nicht zu, von solchen Dingen zu träumen. Einen Namen für die | |
Bäckerei hat sie sich zumindest schon ausgedacht: „Piccolo Paradiso“ soll | |
sie heißen, „Kleines Paradies“. | |
* Name geändert | |
5 Aug 2020 | |
## AUTOREN | |
Mitsuo Iwamoto | |
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