# taz.de -- Männliche Prostitution und Corona: „Wer im Elend sitzt, schafft … | |
> Wegen Corona ist und bleibt Sexarbeit in Berlin verboten. Ralf Rötten von | |
> „Hilfe für Jungs“ hält die Debatte um Verbote für verlogen. | |
Bild: Im Tiergarten treffen sich Freier und Prostituierte | |
taz: Herr Rötten, Ihr Verein berät in Berlin Jungen* und Männer*, die | |
anschaffen gehen. Seit März gibt es zur Pandemieeindämmung ein | |
Sexarbeitsverbot. Haben Sie überhaupt noch etwas zu tun? | |
Ralf Rötten: Bei unseren Angeboten gab es überhaupt keinen Lockdown, im | |
Gegenteil. Aufgrund der existenziellen Not der vielen jungen Menschen, die | |
auf der Straße leben und normalerweise der Prostitution nachgehen, haben | |
wir unsere Angebote mit längeren Öffnungszeiten und zusätzlichen | |
Essenspaketen mehr als verdoppelt. | |
Weil diesen Menschen die einzige Geldquelle weggebrochen ist? | |
Von heute auf morgen waren die Plätze der Anbahnung nicht mehr da. In der | |
männlichen Prostitution läuft das ja im Wesentlichen über Bars und | |
Internet. Die Bars waren geschlossen. Es hat auch fast keine Nachfrage mehr | |
nach Sex gegen Geld gegeben. Von daher sind viele der jungen Männer*, die | |
zu uns kommen und in der Regel keinerlei Rücklagen haben, von heute auf | |
morgen im Nichts gelandet. | |
Wir sollten noch einmal über die Sexarbeiter* sprechen, die Sie beraten. | |
Wir haben unterschiedliche Angebote: Zum einen beraten wir mit unserem | |
Projekt Subway Jungen* und Männer* bis 27, die obdachlos sind und | |
anschaffen gehen. Das sind bei uns hier in Berlin zum sehr großen Teil | |
südosteuropäische junge Männer. Einige kommen auch aus Syrien, Afghanistan | |
und Iran. In unserem Projekt Smart beraten wir aber auch professionelle | |
Sexarbeiter*. | |
Halten sich obdachlose Sexarbeiter* an das Arbeitsverbot? | |
Ich kann da nur mutmaßen. Aber aufgrund der existenziellen Not dieser | |
jungen Leute, die auch keinen Anspruch auf Sozialleistungen oder | |
irgendwelche Soforthilfen haben, ist davon auszugehen, dass sie wieder | |
anschaffen gehen. | |
Sprechen Sie mit Ihren Klienten* nicht darüber? | |
Wir informieren grundsätzlich zu den Themen, die von Bedeutung sind. Aber | |
wir nötigen niemanden dazu, dass er sich selbst outet zu dem, was er tut. | |
Das ist das Grundprinzip unserer Arbeit – egal ob bei der HIV- und STI | |
[Sexually Transmitted Infections, Anm. d. Red.]-Prävention oder der Frage, | |
ob jemand jetzt trotz Verbot der Prostitution nachgeht. Für uns ist | |
wichtig, dass die Person die rechtlichen und gesundheitlichen | |
Rahmenbedingungen kennt und dann eine informierte Entscheidung trifft. | |
Also sind Sie auch Anlaufstelle in Sachen Corona? | |
Das war im April und Mai der Hauptteil unserer Streetworkangebote. Niemand | |
von uns hat diese Lebenssituation bisher durchgemacht, von daher herrscht | |
ja schon in der Allgemeinbevölkerung ein großes Informationsbedürfnis. Wenn | |
ich dann noch in einem Land bin, dessen Sprache ich nicht spreche, dann | |
verstehe ich ja erst recht nicht, was hier gerade passiert. | |
Was bedeutete der Wegfall dieser Geldquelle für diese Menschen? | |
Das hat zum Beispiel bedeutet, dass sich einzelne junge Männer auf sehr | |
fragwürdige Angebote von angeblichen Freiern einlassen mussten, um irgendwo | |
unterzukommen. Anderen wurden Angebote gemacht, in städtische | |
Übernachtungseinrichtungen zu gehen, die aber sehr häufig nicht mit der | |
Vielfalt und Lebenswirklichkeit von Transpersonen und Sexarbeitern umgehen | |
konnten. Weil auch die Tafeln ihre Ausgabestellen nicht öffnen durften und | |
viele Obdachlosenangebote eingestellt wurden, haben wir zum Beispiel auch | |
fürs Wochenende Lebensmittelpakte verteilt, um die Tage zu überbrücken, an | |
denen wir geschlossen haben. | |
Hat sich die Situation seit März verändert? | |
Eindeutig. Die Anbahnungsgaststätten sind wieder geöffnet. Im sozialen | |
Leben der Stadt nimmt man doch immer weniger Einschränkungen wahr, auch der | |
etwas promiskere Teil des schwulen Lebens findet zur Normalität zurück. Da | |
wird es immer schwieriger zu vermitteln, dass Sexdienstleistungen weiterhin | |
verboten sind. | |
Laut Gesundheitsverwaltung soll das Verbot mindestens bis Ende Oktober | |
bestehen (siehe Infokasten). Ihre Meinung dazu? | |
Es sollte eine Gleichbehandlung der körpernahen Dienstleistungen geben. | |
Wenn man sich anschaut, dass Vaginalsekret, Sperma und Urin keine Relevanz | |
für die Übertragung des Coronavirus haben, Speichel und Tränenflüssigkeit | |
aber schon – Wieso dürfen dann Tattoostudios wieder geöffnet sein, Bordelle | |
aber nicht?! | |
Weil zum Beispiel eine Maskenpflicht noch schwerer durchsetzbar wäre? | |
Selbst im Bereich der Straßenprostitution ist eine Mund-Nasen-Maske sowie | |
die Beschränkung auf Praktiken ohne Mund-Nasen-Kontakt absolut vorstellbar. | |
Und wenn der Freier auf bestimmten Praktiken besteht? Das gibt doch das | |
Machtverhältnis in der Straßenprostitution nicht her, dass der Sexarbeiter* | |
sich dem widersetzt, oder? | |
Ich denke schon, dass der aktuelle gesellschaftlich-moralische Druck dazu | |
führt, dass auch Kunden von Sexarbeit verantwortungsvoller damit umgehen. | |
Wir müssen ja bedenken, dass derzeit über ein generelles Verbot von Sex | |
gegen Geld diskutiert wird. | |
Sie meinen die Einführung des Schwedischen Modells, nach dem zwar die | |
Arbeit der Prostituierten straffrei bleibt, nicht aber ihre Inanspruchnahme | |
durch die Freier. | |
Genau. Wenn die Freier das nicht wollen, sollten sie sich besser an | |
Spielregeln halten. | |
Es gibt die Kritik von Prostituiertenselbstvertretungen, dass auch beim | |
jetzigen Beharren auf das coronabedingte Verbot der Sexarbeit die | |
moralische Bewertung dieser Arbeit mitschwingt. | |
Das sehen wir ganz genauso. Wir sind ganz klar der Meinung, dass es nicht | |
die paternalistische Aufgabe des Gesetzgebers ist, Menschen vor der eigenen | |
Berufswahl zu schützen. Arbeit im Atomkraftwerk, im Straßenbau, im | |
Braunkohletagebau oder im Schlachthof: Wir haben in unserer Gesellschaft | |
viele Berufsbilder, die gesundheitsschädigend sind und die wir trotzdem | |
zulassen. Da macht es sich der Gesetzgeber auch nicht zur Aufgabe, zu | |
sagen, das darfst du nicht, sondern er macht maximal Schutzvorschriften. | |
Das bei der Sexarbeit anders handhaben zu wollen ist paternalistisch, | |
bevormundend und wider sämtliche Prinzipien, die wir uns in den letzten | |
fünfzig Jahren in dieser Gesellschaft erkämpft haben. | |
Gilt das nicht alles nur für den recht kleinen Teil der Sexarbeiter*innen, | |
die selbstbestimmt arbeiten können? | |
In der männlichen Sexarbeit ist dieser Teil gar nicht so klein. Man muss | |
sich da die grundlegenden Unterschiede zwischen weiblicher und männlicher | |
Sexarbeit anschauen. Der Grad der Ausbeutung, die Herkunftsländer, Lebens- | |
und Arbeitssituationen sind wirklich andere. Das eine ist nicht schlimmer | |
oder besser als das andere. Es ist aber verschieden. | |
Inwiefern? | |
Männliche Prostitution ist fast immer selbstständig organisiert und findet | |
in der Regel in der Wohnung des Sexarbeiters oder Freiers statt, während | |
weibliche Prostitution oft über Eskort-Services, Bordelle und so weiter | |
abgewickelt wird. Und ohne jetzt mit Klischees zu spielen: Nicht wenige der | |
männlichen Sexdienstleister laufen fünfmal die Woche ins Fitnessstudio, die | |
werden wesentlich seltener zu Opfern sexueller Ausbeutung als sehr junge | |
Frauen. Da werden Männer viel häufiger auf deutschen Baustellen und in | |
deutschen Schlachthöfen ausgebeutet. | |
Aber auch viele der jungen, zum Teil süchtigen Männer prostituieren sich | |
doch aus reiner Not und nicht, weil das ihre selbstbestimmte Berufswahl | |
ist. In der weiblichen Prostitution mag Ausbeutung häufiger sein. Aber das | |
ist doch generell der Grund dafür, warum Prostitution als schwieriges | |
Berufsfeld gesehen wird. | |
Sehen Sie, und das ist doch von Vornherein eine verlogene | |
Argumentationskette. Wir müssen endlich dafür sorgen, dass alle | |
Bürger*innen der Europäischen Union eine Mindestabsicherung bekommen, | |
sodass sie – egal in welchem Land der EU sie leben – nicht gezwungen sind, | |
sich auf ausbeuterische Verhältnisse einzulassen, ob in Schlachthöfen oder | |
in der Sexarbeit. Aber grundsätzlich selbstständigen, emanzipierten, | |
erwachsenen Menschen zu verbieten, der Sexarbeit nachzugehen, um andere | |
angeblich damit zu schützen, das funktioniert ja auch gar nicht. | |
Weil … | |
Ja, das merken wir doch gerade jetzt in der Coronazeit. Diejenigen, die im | |
tiefsten Elend sitzen, können es sich am wenigsten leisten, aus der | |
Sexarbeit auszusteigen. Die gehen trotzdem anschaffen – egal, ob sie mit | |
Verboten und Strafen belegt werden. | |
10 Jul 2020 | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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