| # taz.de -- Medikamentenmangel in Deutschland: Am Tropf der Welt | |
| > Um Kosten zu sparen, hat Deutschland die Medikamentenproduktion an | |
| > Monopolisten im Ausland delegiert. Diese totale Abhängigkeit rächt sich. | |
| Bild: Medikamente als Mangelware in Deutschland | |
| Wo man hinschaut, fehlen in Deutschland qualifizierte Arbeitskräfte. Und | |
| jetzt fehlen auch noch Medikamente! Aber wir haben ja zum Glück das beste | |
| Gesundheitswesen. Oder? Pflegekräfte sind es gewohnt, [1][den | |
| Arbeitskräftemangel mit Überstunden und Doppelschichten auszugleichen]. | |
| Wenn das noch nicht reicht, dann nehmen sie halt vier, fünf oder sechs | |
| Patient:innen in ihre pflegerische Obhut statt der erlaubten zwei. Das | |
| ist besorgniserregend, doch auf Einsatzbereitschaft und Ethos der | |
| Pflegekräfte war schon immer Verlass. | |
| Aber nun geht es plötzlich ans Eingemachte: „Angespannte Lage auf dem | |
| Arzneimittelmarkt“, „Fiebersenkende Mittel und Hustensäfte gehen aus“, | |
| „Lieferengpässe“, „Keine Antibiotika mehr vorhanden“. Viele Medikamente | |
| [2][sind nicht mehr ausreichend verfügbar], einige Regale sind leer. War es | |
| nicht so, dass im Kapitalismus sogleich produziert und verkauft wird, wenn | |
| Umsatz und Gewinne winken? Wieso funktioniert das hier nicht? | |
| Zuerst der akute Grund: Nicht die angesagte vierte, fünfte oder sechste | |
| Coronawelle rollt zur Zeit übers Land, sondern [3][eine fulminante | |
| Grippewelle] mit dem Schwerpunkt auf RS-Viren, die Arztpraxen und | |
| Krankenhäuser an ihre Grenzen bringt. Da kann es schon mal zu einem | |
| Versorgungsengpass kommen, kurz und vorübergehend. Das ist normal. | |
| Der chronische Grund allerdings wiegt schwerer. Die älteste Meldung über | |
| einen Lieferengpass findet sich 1985 im Deutschen Ärzteblatt. Eine | |
| Augensalbe konnte wegen produktionstechnischer Schwierigkeiten nicht in den | |
| Handel gebracht werden. Eine Lappalie. Dreißig Jahre später aber war daraus | |
| eine Lawine geworden. Wir schreiben das Jahr 2016, als das | |
| Bundesgesundheitsministerium aufgrund einer Kleinen Anfrage der | |
| Linken-Fraktion 13 Impfstoffe und 26 Medikamente auflisten musste, bei | |
| denen Lieferengpässe aufgetreten waren. | |
| ## Globale Billigkonkurrenz | |
| Die Aufregung war groß. Mittlerweile nämlich handelte sich um | |
| lebenswichtige und kaum zu ersetzende Medikamente wie die Antibiotika | |
| Ampicillin, Piperacillin und Metronidazol. Betroffen war auch Metoprolol, | |
| der damalige Blockbuster unter den Blutdrucksenkern, ebenso das | |
| Krebsmedikament Melphalan und das Anti-Parkinson-Mittel Levodopa. Es | |
| fehlten Impfstoffe gegen Kinderlähmung, Tetanus, Diphterie und Keuchhusten. | |
| Das alles ist jetzt schon sieben Jahre her. Zum Besseren gewendet hat sich | |
| seitdem nichts. | |
| Woran liegt das? Mit dem Ablauf von Patentschutzfristen wurde die | |
| Arzneimittelproduktion durch globale Billigkonkurrenz immer häufiger | |
| unrentabel, ganze Produktionslinien wurden in Europa stillgelegt. Das | |
| erwähnte Piperacillin wurde zum Beispiel nur noch in zwei Fabriken auf der | |
| ganzen Welt hergestellt, und eine davon, die in China, war 2016 explodiert. | |
| Außerdem wurden und werden komplette Chargen von Arzneimitteln durch | |
| international agierende Großhändler ins Ausland verschoben, wo höhere | |
| Gewinne locken als hierzulande. | |
| ## Geringe Lagerkapazitäten | |
| Lagerkapazitäten werden so gering wie möglich gehalten, weil sie als | |
| nutzlose Kosten gelten, sowohl in den Fabriken als auch bei den | |
| Zwischenhändlern. Im Falle eines plötzlich höheren Bedarfs [4][gibt es | |
| keine Reserven]. Rabattverträge einzelner Krankenkassen mit | |
| Medikamentenherstellern kickten außerdem die noch verbliebenen Produzenten | |
| und deren Produktionskapazitäten vom europäischen Markt. | |
| Denn nach der ewigen Demagogie von der „Kostenexplosion“ im | |
| Gesundheitswesen, die es tatsächlich nie gegeben hat, galten die | |
| Arzneimittelausgaben als größte Kostentreiber bei den gesetzlichen | |
| Krankenkassen. Mit dem im Januar 2003 in Kraft getretenen | |
| Beitragssatzsicherungsgesetz (BSSichG) bekamen die Krankenkassen – als eine | |
| von vielen Kostendämpfungsmaßnahmen – die Möglichkeit, mit Hilfe direkter | |
| Belieferungsverträge Medikamente zu fest vereinbarten Preisen mit hohem | |
| Rabatt zu beziehen. Die Preisgestaltung der Krankenkassen geschah nach | |
| Ausschreibungen. Die Vereinbarungen führten grundsätzlich zu | |
| Dumpingpreisen, und diese Verträge unterliegen bis heute strikter | |
| Geheimhaltung (!). In der Folge stellten Hersteller, die nicht zum Zuge | |
| gekommen waren, die Produktion des betreffenden Arzneimittels ein. | |
| ## Problematische Rabattverträge | |
| Die daraus resultierende schrittweise Monopolisierung ließ eine Pharmafirma | |
| nach der anderen komplett aussteigen. So kommt es, dass es heute in | |
| Deutschland – vor nicht allzu langer Zeit die „Apotheke der Welt“ – | |
| keinerlei Arzneimittelproduktion mehr gibt. Nahezu die gesamte | |
| Arzneimittelproduktion der Welt [5][findet inzwischen in Indien, Pakistan | |
| und China statt]. Die Ausgaben für Arzneimittel in Deutschland betrugen im | |
| Jahr 2021 etwa 45 Milliarden Euro, die Einsparungen durch die | |
| Rabattverträge etwa 4 Milliarden Euro. Für diese zwar nicht unerhebliche | |
| Ersparnis hat Deutschland seine Produktionsstätten mit allen Arbeitsplätzen | |
| und sein Know-how verloren und ist stattdessen in eine völlige und | |
| gefährliche Abhängigkeit geraten. | |
| Wenn Gaslieferungen stocken oder gestoppt werden, dann werden wir frieren. | |
| Was aber geschieht, wenn China seine Medikamentenlieferungen einstellt? | |
| Dann geht es um Leben und Tod. Vielleicht wird demnächst wieder eine Fabrik | |
| explodieren, vielleicht braucht China die Medikamente selbst, vielleicht | |
| hat jemand [6][ein falsches Wort über Taiwan gesagt]. | |
| Die Abhängigkeit ist inzwischen total, und auf die Lieferketten haben | |
| Europa und Deutschland keinerlei Einfluss. Wir erleben zurzeit nur einen | |
| Vorgeschmack dessen, was uns bevorstehen könnte. Kleine Korrekturen werden | |
| da nichts helfen. Die Rabattverträge müssen weg. Die lebenswichtige | |
| Arzneimittelproduktion muss nach Europa zurückgeholt werden. Derzeit sehen | |
| wir, was geschieht, wenn unsere Daseinsvorsorge globalisiert wird und in | |
| der Hand multinationaler Konzerne liegt. | |
| 30 Dec 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Bernd Hontschik | |
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