# taz.de -- Medikamentenmangel für Kinder: Immer noch zu wenig Saft im System | |
> Um den Mangel an Kindermedikamenten zu lindern, gelten ab 1. Februar neue | |
> Regeln für die Kostenübernahme. Doch keiner glaubt, dass das etwas | |
> bringt. | |
Bild: Leider Mangelware: fiebersenkende Säfte für Kinder | |
Jetzt werden auch noch die einfachsten Medikamente knapp“, hatte der | |
Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte schon im Dezember | |
gestöhnt. Da waren die Praxen völlig überfüllt und die Krankenhausbetten | |
für die Kleinsten mehr als knapp. Die Apotheken rationierten Fiebersaft für | |
die ganz ernsten Fälle, Antibiotika für Kinder wurden ebenfalls Mangelware. | |
In dieser Woche präsentierte der Spitzenverband der gesetzlichen | |
Krankenkassen nun eine Sofortmaßnahme zur Linderung dieses Mangels: Ab | |
Februar gelten für drei Monate nicht mehr die üblichen Festbeträge für die | |
Kostenübernahme bei vielen Kindermedikamenten. Das Ganze geht zurück auf | |
eine Initiative von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). | |
Doch Einschätzungen von Herstellern und dem Bundesinstitut für Arzneimittel | |
und Medizinprodukte zeigen, dass dadurch kaum eine zusätzliche Flasche | |
Fiebersaft in die Apotheken kommen wird. Eigentlich glaubt nicht einmal die | |
gesetzliche Krankenversicherung (GKV) selbst daran. Alle warten nun auf den | |
angekündigten großen Wurf aus dem Gesundheitsministerium. | |
## Die Versorgungslage verschlechtert sich seit Jahren | |
Das Problem ist nicht neu. Die Versorgungslage vor allem mit Medikamenten, | |
deren Patentschutz abgelaufen ist – sogenannte Generika –, verschlechtert | |
sich seit Jahren. Die Hauptursache dafür ist ein System aus Festbeträgen | |
und Rabattverträgen, das sich ausschließlich an den günstigsten Preisen | |
orientiert. | |
Der Festbetrag definiert den Höchstbetrag, bis zu dem die gesetzliche | |
Krankenkasse die Kosten für ein verschriebenes Medikament übernimmt. Die | |
GKV ist dazu verpflichtet, die Festbeträge an den günstigsten im Markt | |
verfügbaren Preisen auszurichten. Bei Medikamenten, die teurer sind als der | |
Festbetrag, ist es der Patient, der draufzahlen muss – weshalb er natürlich | |
zum günstigeren Medikament greift. Dazu kommen bei vielen Medikamenten | |
Rabattverträge der Krankenkassen mit bestimmten, besonders günstigen | |
Herstellern. | |
Was als Kosteneinsparsystem gedacht war, hat in der Praxis fatale Folgen. | |
Am Beispiel Fiebersaft lässt sich das gut illustrieren: Vor ein paar Jahren | |
gab es noch mehrere Anbieter, die die massenhaft verkauften Medikamente für | |
den deutschen Markt produzieren. Jetzt sind noch genau ein Hersteller für | |
ibuprofenhaltigen und einer für paracetamolhaltigen Fiebersaft übrig. | |
Der Preisdruck führte außerdem dazu, dass die Rohstoffverarbeitung in | |
vielen Fällen nach Asien verlagert wurde. Produziert wird just in time – | |
Lagerplatz ist viel zu teuer. Wenn dann in einer fragilen Weltlage | |
Lieferkettenprobleme auftreten oder sich, wie seit dem Spätsommer zu | |
beobachten, besonders starke Infektionswellen und eine entsprechende | |
Nachfrage aufbauen, kann das System dem nichts entgegensetzen. | |
## Bei der Ökonomisierung zu weit gegangen | |
Karl Lauterbach hatte daher [1][kurz vor Weihnachten vorgeschlagen], dass | |
kurzfristig das 1,5-Fache der bisherigen Festbeträge bei besonders knappen | |
Medikamenten übernommen wird. Man sei auch in diesem Bereich mit der | |
Ökonomisierung zu weit gegangen, so Lauterbach. Der Preis habe die | |
alleinige Rolle gespielt, die Verfügbarkeit von Arzneimitteln eine zu | |
geringe. | |
Die GKV war zunächst nicht überzeugt, setzt nun aber ab dem 1. Februar die | |
Festbeträge für 180 Kindermedikamente drei Monate komplett aus. Doch das | |
sei „nicht mehr als eine symbolische Geste“, so Pro Generika, der | |
Branchenverband der deutschen Generikahersteller. Die verbliebenen | |
Produzenten etwa von Fiebersaft arbeiteten bereits auf Volllast. Es gebe | |
derzeit schlicht keine Ware, die kurzfristig auf den Markt gebracht werden | |
könne. | |
Das bestätigt auch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, | |
das Lieferengpässe auf dem deutschen Markt überwacht. Sowohl bei | |
Fiebersäften, als auch bei den knappen Antibiotika seien zusätzliche | |
Produktionsmengen bereits realisiert oder für Anfang des Jahres eingeplant. | |
„Weitere Produktionssteigerungen erscheinen ad hoc als nicht erreichbar“, | |
so ein Sprecher. Da die Infektionslage in anderen EU-Ländern mit größerer | |
Medikamentenproduktion ähnlich ist, bewertet das Institut auch die | |
Möglichkeit der Importe als gering. | |
Auch die GKV selbst scheint von der beschlossenen Maßnahme kaum überzeugt. | |
Man befürchte, die kurzfristige Aussetzung der Festbeträge könne sich vor | |
allem positiv auf die Gewinne der Hersteller auswirken, nicht aber auf eine | |
Änderung der Lieferprozesse und Produktionsstandorte, heißt es in einem | |
Statement des Vorstands. | |
## Scheitelpunkt der Infektionswelle erreicht | |
Da ist es ein Glück, dass der Scheitelpunkt der Infektionswelle in | |
Deutschland nach Experteneinschätzung bereits erreicht ist und bis Februar | |
auf eine deutliche Beruhigung gehofft werden kann. Zumindest Fiebersaft und | |
Antibiotika werden dann mutmaßlich nicht mehr knapp sein. Das Grundproblem | |
aber bleibt und erstreckt sich auch auf andere Medikamente, etwa zur | |
Krebsbehandlung. Zuletzt gab es hier Anfang 2022 eine [2][echte | |
Versorgungskrise mit einem Medikament], das bei hunderttausend Frauen in | |
der Brustkrebsbehandlung zum Einsatz kommt. In dieser Woche nun warnte die | |
Gesellschaft für Hämatologie und medizinische Onkologie vor weiteren | |
drohenden Engpässen – etwa bei Medikamenten zur Behandlung von Leukämie bei | |
Kindern. | |
Der Branchenverband der europäischen Generikahersteller, Medicines For | |
Europe, verweist darauf, dass in keinem anderen Land der EU der Preisdruck | |
auf die Hersteller so hoch sei wie in Deutschland. Deutschland sei zu groß, | |
um sich auf immer eigene wenige Hersteller und die Lieferung aus anderen | |
EU-Ländern zu stützen. „Das ist kein verantwortliches Verhalten“, so ein | |
Sprecher. | |
Gesundheitsminister Lauterbach hatte Ende Dezember in einem | |
[3][Eckpunktepapier skizziert], wie er die Probleme in der | |
Medikamentenversorgung nachhaltig bekämpfen will. Darin ist nicht nur von | |
der jetzt übergangsweise umgesetzten Änderung der Preispolitik die Rede. | |
Künftig sollten bei Rabattverträgen zusätzlich zum günstigsten auch | |
europäische Hersteller berücksichtigt, Vorräte bei kritischen Medikamenten | |
angelegt und die Überwachung von Lieferengpässen verbessert werden. | |
Für Anfang dieses Jahres hat Lauterbach einen entsprechenden Gesetzentwurf | |
in Aussicht gestellt. Die jetzt schon milliardenschweren Defizite der | |
gesetzlichen Krankenkassen sitzen ihm dabei im Nacken. | |
14 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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