# taz.de -- Mäßiges Wahlergebnis der Grünen: Bitte keine Realitätsflucht! | |
> Ein großer Erfolg? Wohl kaum: Die Grünen haben nur ein mäßiges Ergebnis | |
> eingefahren. Statt es schönzureden, müssen sie es nun ehrlich | |
> analysieren. | |
Bild: 14,8 Prozent, das ist sicher kein großartiger Erfolg: Grünen-Wahlparty … | |
Die Grünen sollten sich jetzt vor Realitätsflucht hüten. Angesichts des | |
enttäuschenden Knapp-15-Prozent-Ergebnisses gibt es in der Partei zwei | |
reflexhafte Reaktionen, die verständlich sind, sich aber nicht an der | |
Wirklichkeit orientieren. Die eine Reaktion ist das Schönreden: Das | |
Ergebnis sei – verglichen mit vorherigen Wahlen – ein historischer Erfolg, | |
sagen manche, die Partei habe sich supertoll gegen heftigsten Gegenwind | |
(Internethetze! Die Medien! Springer!) gehalten und die tapfere Annalena | |
Baerbock großartig gekämpft. | |
Das ist nicht ganz falsch, aber auch ziemlich grün-romantisch. Der zweite | |
Reflex ist, sich nun mit aller Energie in die anstehenden Sondierungen zu | |
stürzen – und tiefgehende Ergebnisanalysen erstmal hintanzustellen. Das ist | |
pragmatisch und wahrscheinlich geht es zunächst nicht anders. Es darf aber | |
nicht dazu führen, dass eine ausführliche Reflexion umständehalber | |
ausfällt, wie es zum Beispiel 2017 der Fall war. | |
Denn, liebe [1][Grüne], ihr müsst jetzt tapfer sein: 14,8 Prozent, das ist | |
eine Niederlage, die sich gut verkaufen lässt, aber sicher kein großartiger | |
Erfolg. Eine Partei, die ein Jahr lang mit dem Anspruch durch die Gegend | |
lief, das Land führen zu wollen, die explizit als Ziel ausgegeben hatte, | |
die Kanzlerin zu stellen, muss sich an ihrem eigenen Anspruch messen lassen | |
– und nicht am Ergebnis der Bundestagswahl 2017. | |
Damals war die Situation eine völlig andere. Es gab noch keine so brutalen | |
Dürresommer, keine Flutkatastrophe kurz vor der Wahl und keine | |
Jugendbewegung Fridays for Future, die Klimaschutz im gesellschaftlichen | |
Diskurs stark macht. Und die Grünen lagen vor der Wahl 2017 nicht drei | |
Jahre lang stabil bei 20 Prozent. Kurz: Wer 2017 als Referenzpunkt nimmt, | |
betreibt Realitätsflucht. Zum Glück lassen die ambivalenten Äußerungen von | |
Baerbock und [2][Habeck] darauf schließen, dass sie sich gegen diese Story | |
entschieden haben. | |
Die Ursachen für das enttäuschende Abschneiden der Grünen sind vielfältig. | |
Viele WählerInnen haben der 40 Jahre alten Baerbock, die keine | |
Regierungserfahrung hat, das Amt der Kanzlerin am Ende nicht zugetraut. | |
Ihre Fehler bei den Nebeneinkünften, dem Lebenslauf oder dem Buch taten – | |
obwohl in der Sache Kleinigkeiten – das Ihrige dazu. Baerbock wurde gewogen | |
und für zu leicht befunden, sagen manche Grüne – und liegen damit nicht | |
falsch. | |
## Die Grünen wirkten überfordert | |
Aber diese Analyse kratzt an der Oberfläche. Es wäre unterkomplex, die | |
Verantwortung für das mäßige Ergebnis allein der Kanzlerkandidatin | |
zuzuschieben. Baerbock hat in der zweiten Phase des Wahlkampfes großartig | |
gekämpft und an Trittsicherheit gewonnen. Aber die Grünen wirkten als ganze | |
Partei überfordert. | |
Manchmal zogen sie sich in die Trotzecke zurück, manchmal flüchteten sie | |
sich in Spiegelstriche, die große Erzählung geriet ins Abseits. Sie fielen | |
also in Verhaltensweisen zurück, die sie eigentlich ablegen wollten. | |
Offensichtlich war ein Kanzlerinnen-Wahlkampf eine Überforderung für die | |
Partei: Der Brutalität der Auseinandersetzung und der Fallhöhe, die damit | |
einhergeht, war die Partei einfach noch nicht gewachsen. | |
Entscheidend ist noch etwas anderes: Die Veränderungsbotschaft der Grünen | |
traf in diesem Wahlkampf auf eine erschöpfte, von Corona geschüttelte | |
Gesellschaft, die sich nach Normalität sehnt. Die große Mehrheit sieht sehr | |
wohl, dass sich etwas ändern muss, sie gibt in Umfragen an, | |
[3][Klimaschutz] wichtig zu finden. Aber sie hat für behutsame | |
Status-Quo-Anpassung gestimmt, zuckt also zurück, wenn es – durch grüne | |
Programmatik – allzu schmerzhaft fürs eigene Leben wird. Dieses Setting, | |
das sich psychologisch vielfältig deuten lässt, drückt sich in den 14,8 | |
Prozent aus. | |
Das alles wirkt ein bisschen wie die Geschichte von „Bartleby dem | |
Schreiber“, die der amerikanische Schriftsteller Herman Melville im 19. | |
Jahrhundert verfasste. Ein Schreibgehilfe sitzt in seinem dunklen Büro in | |
einer New Yorker Anwaltskanzlei, kopiert Verträge, lehnt aber andere | |
Tätigkeiten mit der Ansage ab: „I would prefer not to.“ („Ich möchte li… | |
nicht.“) | |
Die Gesellschaft war eben nicht, „bereit, weil ihr es seid“. Diese grüne, | |
für den Wahlkampf zentrale Grundannahme war falsch. Ernüchternd für die | |
Parteispitze ist auch, dass sie ja immerhin versucht hat, die deutsche | |
Sehnsucht nach Sicherheit und Stabilität zu antizipieren. Die | |
Veränderungsbotschaften von Baerbock und Habeck waren fein dosiert, auch | |
sie sagten nicht die ganze Wahrheit über die Veränderungen, die die sich | |
zuspitzende Klimakrise nötig macht. | |
Aber selbst der behutsam vorgetragene Aufruf zur ökologischen Wende hat | |
nicht verfangen, in einer Situation, in der die Klimakrise unbarmherzig | |
mitten im Wahlkampf zuschlug – und die Union mit einem äußerst schwachen | |
Kandidaten antrat. | |
Engagierter Klimaschutz? Die deutsche Gesellschaft hat – wie Bartleby – | |
müde abgewinkt. Dies als ökologisch orientierte Partei nicht ausführlich zu | |
analysieren, weil die eingangs beschriebenen Reflexe näher liegen, wäre | |
fahrlässig. | |
27 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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