| # taz.de -- Lkw-Streik mit Fahrern aus Georgien: Moderne Sklaverei auf Rädern | |
| > Seit Wochen streiken Lkw-Fahrer aus Georgien und Usbekistan auf einer | |
| > Raststätte bei Darmstadt. Sie werfen ihrem Arbeitgeber Ausbeutung vor. | |
| Bild: Lkw-Lesepause: Ein Fahrer liest während des Streiks auf seinem Smartphone | |
| Tblissi taz | Die letzten fünf Jahre hat Wasil Itschirauli in einem | |
| Lastwagen gelebt. Er hat Waren von Ost- nach Westeuropa transportiert und | |
| praktisch nichts anderes gesehen, als Straßen und Ampeln. Doch seit Ende | |
| März sind Wasil und 64 andere Lkw-Fahrer, die für den polnischen | |
| Geschäftsmann Łukasz Mazur arbeiten, im Streik. Die Mehrheit von ihnen | |
| kommt aus Georgien und Usbekistan. Die Fahrer haben ihre Trucks [1][in der | |
| Nähe der hessischen Kleinstadt Weiterstadt abgestellt]. Sie sagen, dass ihr | |
| Arbeitgeber sie ausbeute und bereits seit zwei Monaten keinen Lohn bezahlt | |
| habe. | |
| Der 35-Jährige Itschirauli ist 2017 von Georgien nach Litauen gegangen. | |
| Seit über einem Jahr arbeitet er für die polnische Firma Mazur und habe nie | |
| den versprochenen Lohn von 2.650 Euro in voller Höhe ausbezahlt bekommen. | |
| „Vor Kurzen ist an meinem Lkw die Lüftungsklappe im Dach kaputtgegangen. | |
| Dafür wurden mir am Monatsende 1.500 Euro vom Gehalt abgezogen“, sagt | |
| Itschirauli. So laufe das ständig. | |
| Zwar seien alle Fahrzeuge versichert, aber beim geringsten Schaden müssten | |
| die Fahrer dafür aufkommen. Zudem seien ihnen oft freie Tage verweigert und | |
| Überstunden nicht bezahlt worden. Schlafen und essen, das müsse man fast | |
| die ganze Zeit hinter dem Steuer erledigen. Itschirauli hat kein | |
| Arbeitsvisum. Der Arbeitgeber hatte zwar versprochen, ihm mit den | |
| Dokumenten zu helfen, doch es passierte nichts. | |
| Der Arbeitgeber stieß [2][Drohungen aus und tauchte am 7. April mit | |
| bewaffneten Männern auf]. Diese versuchten, den Fahrern ihre Lkws | |
| wegzunehmen. Inzwischen haben 50 Streikende ihr Gehalt nachbezahlt | |
| bekommen. Aber Leute wie Wasil haben das abgezogene Geld für die Reparatur | |
| nicht erstattet bekommen. Dieser kleine Sieg ist den georgischen | |
| Gewerkschaften zu verdanken, so Itschirauli. Gleich zu Beginn des Streiks | |
| hatten sich die Fahrer an sie gewandt. Dieser informierte die deutschen und | |
| niederländischen Gewerkschaften. Der Vorsitzende des georgischen | |
| Gewerkschaftsverbandes, Irakli Petriaschwili, reiste vor einigen Tagen nach | |
| Weiterstadt. | |
| Für Petriaschwili war es nicht der erste derartige Fall. Viele georgische | |
| Staatsbürger*innen, die nach Europa gingen, arbeiteten unter | |
| schwierigsten Bedingungen. Zum Beispiel hätten Georgier*innen, [3][die 2021 | |
| in Deutschland als Erdbeerpflücker*innen beschäftigt waren, nur drei | |
| Euro pro Stunde verdient – drei mal weniger als der Mindestlohn]. | |
| ## EU-Maßnahmen zum Schutz aller Arbeitnehmer*innen | |
| Einige Tage vorher kamen EU-Abgeordnete mit den Streikenden zusammen. Am | |
| 18. April räumten EU-Parlamentarier bei einem Treffen in Straßburg ein, | |
| dass es systemische Probleme in der Europäischen Union (EU) gebe – Menschen | |
| aus Drittstaaten, insbesondere Lkw-Fahrer, würden oft ausgebeutet. „Die | |
| EU-Maßnahmen zum Schutz aller Arbeitnehmer*innen werden nicht richtig | |
| angewendet und sind zum Teil nicht ausreichend“, sagte Gabriele Bischoff | |
| der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten. | |
| „Egal, wie sehr ich in Polen ausgebeutet werde, in Georgien war es noch | |
| schlimmer“, erzählt der 44-jährige Koba Kwantaliani. Die meiste Zeit seines | |
| Lebens hat er im kleinen Dorf Kazreti, im Westen Georgiens, verbracht. | |
| Dort, bei der Goldmine, fuhr er auch einen Lastwagen. Er musste 12 Stunden | |
| am Tag arbeiten, oft schob er auch Nachtschichten. Dafür erhielt er | |
| monatlich 1.700 Lari (umgerechnet 607 Euro). | |
| Vielleicht nur für ein paar Monate wird er nach Georgien zurückfahren, denn | |
| seit September hat er seine Frau und Töchter nicht gesehen. Dasselbe | |
| berichtet Itschirauli. Er hat seine Familie seit zwei Jahren nicht | |
| getroffen. „In Georgien gibt es keine Perspektiven, um die Familie zu | |
| ernähren.“ Seine Familie – das sind seine Frau, sein dreijähriger Sohn und | |
| die Eltern, die bereits in Rente sind. Diese beträgt durchschnittlich | |
| umgerechnet rund 90 Euro monatlich. Ein Durchschnittsgehalt liegt bei 500 | |
| Euro. | |
| 2021 lebten 17 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Beide | |
| Männer sagen, dass sie nicht mehr in Polen arbeiten würden. Ihre größte | |
| Hoffnung sei ein Arbeitsvisum in Deutschland. Nach Angaben des | |
| Statistischen Dienstes der EU haben in den vergangenen neun Jahren über | |
| 110.000 georgische Staatsbürger*innen versucht, in EU-Ländern Asyl zu | |
| erhalten. [4][Die überwiegende Mehrheit der Anträge wurde abgelehnt]. | |
| Aus dem Russischen von Barbara Oertel | |
| 23 Apr 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sandro Gvindadze | |
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