# taz.de -- Lebenslange Haft für Halle-Attentäter: Höchststrafe für Mensche… | |
> Im Prozess zum Anschlag von Halle sucht der Täter einen letzten Eklat. | |
> Die Richterin würdigt die Opfer und ringt mit der Fassung. | |
Bild: 21.12.2020: Gedenkaktion in Magdeburg vor der Urteilsverkündung | |
MAGDEBURG taz | Als es geschafft ist, als der Attentäter verurteilt ist, | |
stehen die Betroffenen vor dem Landgericht in Magdeburg und halten eine | |
Pressekonferenz ab. Sie stehen neben Kundgebungspavillons und Bannern, es | |
ist kalt. „Dieses Verfahren sollte ein Präzedenzfall werden“, sagt Naomi | |
Henkel-Gümbel. Weil sich die Betroffenen hier eine Stimme verschafften, | |
weil sie Raum bekamen. Und dennoch müsse sich etwas ändern im Umgang mit | |
rechtsextremen Ideologien in diesem Land. „Das ist kein Weckruf, das ist | |
eine Aufforderung.“ | |
Noami Henkel-Gümbel gehörte zu den 51 Gläubigen, die am 9. Oktober 2019 die | |
Synagoge in Halle besucht hatten, um Jom Kippur zu feiern. Und die beinah | |
einem Massaker zum Opfer fielen. Kurz vor ihrem Statement am Montag wurde | |
in dem Magdeburger Gericht der Mann verurteilt, der dafür verantwortlich | |
ist. Der 28-jährige Rechtsextremist erhielt lebenslange Haft, mit | |
besonderer Schwere der Schuld und anschließender Sicherungsverwahrung. Die | |
Höchststrafe. | |
Der Rechtsextremist scheiterte im Oktober 2019 an der verschlossenen | |
Synagogentür, tötete aber eine Passantin, Jana L., und im nahe gelegenen | |
„Kiez-Döner“ den Malerlehrling Kevin S. Er schoss auf weitere Passanten, | |
die teils schwer verletzt wurden. Die Tat war ein Fanal, einer der | |
schlimmsten antisemitischen Angriffe in diesem Land seit Jahrzehnten. Seit | |
Juli wurde darüber im Magdeburger Gericht verhandelt, 26 Prozesstage lang. | |
Nun setzt Richterin Ursula Mertens den Schlusspunkt. Und sie tut es | |
eindrücklich. | |
Seit 13 Jahren ist Mertens vorsitzende Richterin, normalerweise spricht sie | |
ihre Urteile frei. Diesmal aber hat die 57-Jährige alles niedergeschrieben, | |
auf mehr als 30 Seiten. „Um die Fassung nicht zu verlieren“, sagt Mertens. | |
Und dennoch wird sie in ihrem fast dreistündigen Schlusswort mehrmals um | |
Fassung ringen. | |
## „Eine feige menschenverachtende Tat“ | |
Als „abscheuliche, feige, menschenverachtende Tat“ bezeichnet die Richterin | |
den [1][rechtsextremen Anschla]g. Der Täter habe diese aus „kruden | |
Verschwörungstheorien“ heraus begangen, die jeder Logik entbehrten. „Mit | |
einem Kampf hatte sein feiger Angriff nicht im Ansatz etwas zu tun.“ Er | |
habe Opfer und Angehörige „in tiefes Leid gestürzt“. Er sei des | |
Doppelmordes schuldig und des 63-fachen versuchten Mordes. Zudem muss er | |
zwei Polizisten, die dies beantragt hatten, 4.000 und 5.000 Euro | |
Schmerzensgeld bezahlen. Auch drei weitere Opfer muss er entschädigen. | |
Mertens stellt in ihrer Urteilsbegründung den Mord an Jana L. voran. Die | |
40-Jährige sei lebensfroh gewesen, Sängerin in einem Chor, für sie sei der | |
9. Oktober 2019 ein ganz normaler Tag gewesen. Nichts ahnend sei sie vor | |
der Synagoge auf ihren Mörder gestoßen, der sie unvermittelt erschoss, als | |
sie fragte, was er da mache. „Sie hatte keine Chance“, sagt Mertens. Das | |
Leben ihrer Familie sei nun zerstört, ihre Mutter habe bis zum Schluss | |
nicht die Kraft gehabt, am Prozess teilzunehmen, sagt Mertens. | |
So wird die Richterin in den nächsten Stunden fortfahren. Sie wird alle | |
Betroffenen des Anschlags noch einmal sichtbar machen, etliche von ihnen | |
als „Helden“ loben, weil sie andere zu schützen oder den Täter zu stoppen | |
versuchten. Und sie wird die Lebensläufe in Kontrast zu dem Verurteilten | |
setzen, der nach einem abgebrochenen Studium sechs Jahre lang bei seiner | |
Mutter im Kinderzimmer saß und nichts tat, außer im Internet auf Gaming- | |
und Chatportalen abzuhängen. | |
Dass Mertens die Höchststrafe verkünden werde, war absehbar. Der Attentäter | |
hatte seine Tat selbst in einem Online-Livestream dokumentiert, er | |
verteidigte sie ungeläutert im Gerichtssaal. Er beklagte nur, dass er zwei | |
letztlich unbeteiligte „Weiße“ tötete. Die Tat versuchte er als | |
Verteidigungskampf für sein Land zu inszenieren, gegen Juden und Muslime. | |
Im Saal provozierte er die Opfer weiter mit Grinsen und Einwürfen. Vor | |
allem aber erhoben dort die Betroffenen ihre Stimme, bezeichneten den | |
Angeklagten als Versager und erklärten, ihren Glauben weiterzuleben, jetzt | |
erst recht. | |
## Der Richterin fehlen die Worte | |
Die Verteidiger des Angeklagten hatten noch versucht, zumindest den Angriff | |
auf die Synagoge zu relativieren, schließlich habe der Attentäter das | |
Eindringen hier selbst aufgegeben. Mertens aber lässt das nicht gelten. „Er | |
war finster entschlossen, Menschen umzubringen“, sagt sie. „Menschen, die | |
nichts anderes als ein hohes Fest feiern wollten.“ Natürlich handele es | |
sich um versuchten Mord, in allen 51 Fällen. | |
Dann wendet sie sich dem „Kiez-Döner“ zu, in dem Kevin S. getötet wurde. | |
Der 20-Jährige hatte sich noch hinter einem Kühlschrank versteckt und um | |
sein Leben gefleht. „Fresse, Mann“, hatte der Attentäter nur geblafft und | |
abgedrückt. Mertens spricht von einer Hinrichtung. „Mir fehlen die Worte, | |
dies sachlich zu bewerten, wie es meine Aufgabe ist.“ Dieser Mord stehe auf | |
„allerniedrigster Stufe“. Auch Kevin S. habe, trotz Behinderung, etwas aus | |
seinem Leben gemacht, eine Malerlehre erkämpft. Sie spricht den Attentäter | |
direkt an: „Er hat sich nicht ins Kinderzimmer zurückgezogen, anders als | |
Sie.“ Unter den Zuhörern sitzt da Kevins Mutter bereits in Tränen. | |
Es ist einer der Momente, an denen auch Mertens ringt. Schon kurz darauf | |
wird dies erneut geschehen, als sie über Adiraxmaan Aftax Ibrahim spricht, | |
den der Rechtsextremist mit seinem Fluchtauto fast überfuhr. Der Somalier | |
könne nicht zur Urteilsverkündung kommen, weil er gerade für einen | |
Internethandel „schufte“. 2015 sei er nach Deutschland gekommen, habe hier | |
Anfeindungen erlebt, und dann der Anschlagstag. Mertens spricht ihn an, | |
auch wenn er nicht da ist. „Es ist nicht einfach für Sie, in einem Land, | |
das Ihnen Schutz bieten soll.“ Dann bricht ihre Stimme, Mertens stockt, | |
muss sich wieder sammeln. | |
Das Anfahren des Mannes, bei dem dieser Schürfwunden erlitt, wertet Mertens | |
Senat dennoch nicht als versuchten Mord, sondern als fahrlässige | |
Körperverletzung. Es sei nicht nachweisbar, dass der Täter ihn tatsächlich | |
umfahren wollte. Auch die Schüsse auf Ismet Tekin, Betreiber des | |
„Kiez-Döners“, werden nicht als versuchter Mord gewertet. Er war in den | |
Kugelhagel geraten, den der Attentäter auf Polizisten abfeuerte. Beide | |
Betroffene hatten nachdrücklich darum gebeten, die Tat gegen sie als | |
versuchten Mord zu werten. | |
## Weiter „massiv gefährlich“ | |
Mertens wendet sich den anderen Opfern zu. Dem Paar aus Wiedersdorf vor | |
Halle, von dem der Attentäter auf seiner Flucht ein neues Auto erpressen | |
wollte. Jens Z. schoss er dabei in den Hals, Dagmar M. in den Oberschenkel. | |
„Sie taten, was Sie am besten können, Sie schossen von hinten“, sagt | |
Mertens kühl. Auch das Paar sei bis heute schwer traumatisiert, sie könnten | |
nicht mehr in ihr Haus zurück, weil Dagmar M. keine Treppen mehr steigen | |
könne. Bis heute sei die Frau arbeitsunfähig. | |
Und die Richterin dankt den zwei PolizistInnen, die den Attentäter | |
schließlich festnahmen. Bis heute würden diese indes nicht geehrt, gibt | |
sich Mertens erstaunt. Auf einer Gedenkveranstaltung sei einer der beiden | |
nicht als Gäste, sondern als Wachschützer eingesetzt worden. | |
Die Betroffenen hatten im Prozess dagegen kritisiert, wie unsensibel | |
PolizistInnen am Anschlagstag mit ihnen umgegangen seien und wie wenig das | |
rechtsextreme Onlinenetzwerk des Täters ausgeleuchtet wurde. Auch Mertens | |
nennt den Rechtsextremisten einen Einzeltäter, der aber im Internet | |
Gleichgesinnte gesucht und gefunden habe. Und sie nimmt die Ermittler ins | |
Schutz. Deren Aufgabe sei es gewesen, die Aktivitäten des Angeklagten im | |
Internet nachzuzeichnen, nicht ein allgemeines Lagebild abzugeben. | |
Offene Kritik richtet die Richterin dagegen an die Familie des Attentäters. | |
Wie könne es sein, dass diese den Sohn jahrelang isoliert in seinem Zimmer | |
leben ließ, ohne ihn aus der Lethargie zu reißen, ohne ihn zu einem | |
Psychologen zu schicken? „Niemand führte ihn zurück. Womöglich wollte dies | |
auch niemand.“ | |
Dass der Täter weiter „massiv gefährlich“ ist, daran besteht für Mertens | |
kein Zweifel. Sie sagt es ihm direkt ins Gesicht. „Sie sind ein | |
Menschenfeind.“ Der Verurteilte habe seine Taten reuelos verteidigt und | |
erklärt, sein Kampf sei noch nicht vorbei. Im Prozess sei er mit | |
verstörender emotionaler Kälte aufgetreten. Als ihn eine Betroffene fragte, | |
ob er auch Kinder getötet hätte, hatte der Angeklagte dies bejaht. Auch aus | |
diesen könnten ja mal Feinde werden. „Allein dieser Satz würde im Grunde | |
schon die besondere Schwere der Schuld begründen“, sagt Mertens. Auch eine | |
verminderte Schuldfähigkeit sieht die Richterin nicht. Der Attentäter habe | |
genau gewusst, dass sein Tun nicht erlaubt war. | |
## Aus dem Gericht geschleift | |
Der Verurteilte schaut Mertens an, verfolgt ihre Worte aber weitgehend | |
regungslos. Nur wenn die Richterin ihm sein politisches Motiv abspricht, | |
zieht er die Augenbrauen hoch oder murmelt kopfschüttelnd vor sich. Am Ende | |
sucht er noch einmal einen Eklat. Als Mertens den Prozess schließt, nimmt | |
er seinen roten Schnellhefter und wirft diesen auf die Betroffenen und ihre | |
AnwältInnen. Polizisten überwältigen ihn sofort und schleifen ihn aus dem | |
Saal. Es ist ein so symptomatischer wie jämmerlicher Abschluss. | |
Der Verurteilte wird nun viele Jahre in Haft kommen, vielleicht für immer. | |
Auch in Sicherungsverwahrung wird zwar irgendwann eine Freilassung geprüft. | |
Gilt der Inhaftierte aber weiter als gefährlich, bleibt er in Haft. Und | |
dass er dies ist, daran ließ der Attentäter von Halle keinen Zweifel. | |
Auch die Betroffenen hatten die Höchststrafe für ihn gefordert. Aber für | |
sie ging es noch um mehr. Sie forderten auch Antworten [2][auf ihre offenen | |
Fragen] ein. Radikalisierte sich der Angeklagte wirklich unbemerkt? Mit wem | |
war er online vernetzt? Haben die Behörden die rechtsextreme Gefahr gut | |
genug im Blick? | |
Das Urteil nehmen einige von ihnen enttäuscht auf. Dass sein Fall nicht als | |
versuchter Mord gewertet wurde, sei eine „riesengroße Enttäuschung“, sagt | |
Ismet Tekin, der „Kiez-Döner“-Betreiber. Natürlich sei auch er Opfer, der | |
Täter habe auf jeden geschossen, den er sah. „Aber wir geben nicht auf, | |
egal welches Urteil“, sagt Tekin. „Wir werden das Beste geben für diese | |
Gesellschaft und gemeinsam tun, was in unserer Macht steht.“ | |
21 Dec 2020 | |
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## AUTOREN | |
Pia Stendera | |
Konrad Litschko | |
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