# taz.de -- Labyrinth aus Tausenden Kerzen: Poetische Welt auf weitem Feld | |
> Open-Air-Theater: „Die Große Reise. Lebens(t)räume im Lichtermeer“ – … | |
> Theater Anu verwandelt das Tempelhofer Feld in eine Märchenwelt. | |
Bild: Szene aus „Die Große Reise“ auf dem Tempelhofer Feld von 2015: der N… | |
BERLIN taz | Über 3.500 mäanderförmig angeordnete Kerzen tauchen das | |
abendliche Tempelhofer Feld in goldenes Licht, während der Horizont sich | |
allmählich von dunkelrot zu dunkelblau färbt. Vor dieser Kulisse können | |
sich die Zuschauer:innen auf eine poetische Reise durch das Schicksal | |
unterschiedlichster mystischer Figuren begeben: Mit [1][„Die große Reise. | |
Lebens(t)räume im Lichtermeer“] bringen Bille Behr und Stefan Behr vom | |
[2][Theater Anu] eines ihrer populärsten Stücke erneut auf das Tempelhofer | |
Feld. | |
Bei seiner Entstehung vor vielen Jahren hat das Ehepaar die Frage nach dem | |
Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt bewegt: „In welche Zwänge sind wir | |
verwickelt? Wo finden wir uns in der Natur wieder?“ Diese Fragen werden | |
anhand märchenähnlicher Geschichten, die mit einer Prise Kuriosität und | |
Wehmut verwoben sind, den Abend über abgehandelt. | |
Die acht Helden der 10- bis 12-minütigen Sequenzen sind dabei zweifelsohne | |
keine gewöhnlichen. „Die Charaktere sind atmosphärische Archetypen“, sagt | |
Bille Behr. „Da gibt es zum Beispiel die Vogelfrau, deren größter Traum es | |
ist zu fliegen. Mit allem, was sie hat, versucht sie diesen Traum zu | |
verwirklichen – und stürzt doch immer wieder ab.“ Ein anderer Charakter ist | |
der des Prinzen, der nicht König werden möchte und es doch nicht schafft, | |
seiner Bestimmung zu entgehen: Die Krone ist durch ein Seil fest mit ihm | |
verbunden. | |
Immer wieder gibt es auch komische Elemente, beispielsweise mit der Figur | |
des Narren. Und dennoch ist es die Melancholie, die dem Stück als ein | |
gemeinsamer Nenner den verschiedenen Helden einen Rahmen gibt: Die Tragik, | |
die ihnen allen zueigen ist, liegt in der Wiederholung des immer gleichen | |
Augenblicks ihrer Lebensgeschichte, aus dem sie nicht ausbrechen können. | |
## „Begegnung bedarf keiner Berührung“ | |
Die Schauspieler:innen bedienen sich bei der Vorstellung vielfältiger | |
stilistischer Mittel: Neben Sprache und Tanz greifen sie auf Licht- und | |
Rauminstallation zurück. Für die kreative Konzeption und Choreografie des | |
Stücks ist Bille Behr verantwortlich, ihr Mann Stefan für das gesprochene | |
Wort. | |
Das Theater Anu, 1998 in Hessen gegründet – seit 2007 hat die Compagnie | |
ihren Hauptsitz in Berlin – bezeichnet sich als ein „Theater der | |
Begegnung“, in dessen Stücken sich Besucher:innen und Schauspieler:innen | |
auf behutsame Weise einander annähern. | |
Das ist auch in Coronazeiten möglich. „Eine Begegnung bedarf keiner | |
Berührung, sie beginnt schon beim Blickkontakt“, erklärt Bille Behr. „Als | |
Schauspieler hat man auf einer normalen Bühne kaum Möglichkeiten, mit den | |
Zuschauern zu interagieren. Meist kann man die Gesichter kaum sehen, weil | |
das Licht so blendet.“ | |
Die Aufhebung der räumlichen und gedanklichen Trennung von Besucher:innen | |
und Schauspieler:innen ist charakteristisch für die Inszenierungen des | |
Theater Anu – ohne dass es dabei zu einem klassischen „Mitmachtheater“ | |
wird. „Wir reichen den Besuchern im übertragenen Sinne die Hand, ob sie sie | |
ergreifen, bleibt ihnen selbst überlassen“, sagt Bille Behr. | |
## Kein lauter Abschlussapplaus | |
Das Stück ist schon lange im Repertoire des Theaters Anu. Sein Titel steht | |
dabei für die „Lebensreise“ selbst. Das abendliche Tempelhofer Feld bietet | |
ihm eine passende Kulisse: Nicht nur seine schiere Weite, auch seine | |
Geschichte als ehemaliger Flughafen fügt sich inhaltlich in die Erzählung | |
ein. | |
Verglichen mit 2015, als das Stück erstmalig auf dem Tempelhofer Feld | |
inszeniert wurde, ist dieses Jahr der Ablauf coronabedingt etwas anders. | |
„Normalerweise können sich die Besucher:innen frei im Labyrinth bewegen und | |
die verschiedenen Aufführungen in unterschiedlicher Reihenfolge und | |
beliebig oft erleben“, erläutert Bille Behr. Nun gebe es stattdessen einen | |
„Theaterparcours“, bei dem die Laufrichtung vorgegeben ist, um zu jeder | |
Zeit den vorgegebenen Sicherheitsabstand zu wahren. | |
„Wir glauben nicht, dass die Qualität der Vorstellung darunter leiden | |
wird“, meint Bille Behr. Die Stücke des Theaters Anu leben von der | |
Verschmelzung ihrer Geschichten mit dem jeweiligen Raum, ihre Spontaneität | |
und Adaptivität tragen wesentlich zu ihrer Wirkungsstärke bei. Und auch die | |
Besucher:innen bringen immer neue, individuelle Facetten ein. Den rein | |
betrachtenden Zuschauer gibt es nicht: „Während des Stücks ist man immer | |
aktiv“, so Behr, „man erläuft sich quasi diese poetische Welt, die wir | |
inszenieren.“ | |
Auf einen lauten Abschlussapplaus, wie man ihn für gewöhnlich aus dem | |
Theater kennt, wird verzichtet. Das würde die kontemplativ-melancholische | |
Atmosphäre wohl auch eher trüben. Dennoch: Traurig gestimmt soll niemand | |
nach Hause gehen. „Letztendlich wird man nicht alleingelassen“, sagt Bille | |
Behr. „Wir finden stets ein versöhnliches Ende.“ | |
1 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://theater-anu.de/anuwelten/die-grosse-reise/berlin-tempelhofer-feld-2… | |
[2] https://theater-anu.de/ | |
## AUTOREN | |
Anna Kühne | |
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