# taz.de -- Kultur in den EU-Wahlprogrammen: Die eigentliche Brandmauer | |
> Die Rechten instrumentalisieren die Kultur für ihr nationalistisches | |
> Weltbild. In den EU-Wahlprogrammen großer Parteien nimmt sie wenig Raum | |
> ein. | |
Bild: Gegenwind für die europäische Idee und eine gemeinsame Kulturpolitik | |
Man braucht schon Geduld, um sie in den EU-Wahlprogrammen von CDU und SPD | |
zu finden, zumal ihr nicht einmal mehr eigene Kapitel gewidmet sind. Die | |
Rede ist von der Kulturpolitik. Wenn man Verstreutes zu ihr entdeckt, dann | |
gern in gängigen Phrasen. | |
So betont man bei den Christdemokraten den „Reichtum“ des Kreativsektors | |
und bekundet, dass „der kulturelle Austausch gefördert“ und gestärkt werd… | |
soll. Sieht man von der FDP ab, die hauptsächlich den Ausbau von Erasmus | |
forciert, fällt die Bilanz bei den Sozialdemokraten am spärlichsten aus. | |
Ungeachtet der rein quantitativen Unterrepräsentation der Kunst in deren | |
Papier kommt ihr an den wenigen Stellen, wo sie Erwähnung findet, zumeist | |
eine klare Zweckmäßigkeit zu, insbesondere als einer der „gewichtige[n] | |
Faktoren in der Konfliktprävention“. Von ihrem Wert an sich, also abseits | |
einer sozialpädagogischen Inpflichtnahme, liest man nichts. | |
Dass die Kulturpolitik in den Parteikonzeptionen immer eher das fünfte Rad | |
am Wagen war, hat bislang nur wenige gestört. Schließlich liegen in | |
Deutschland viele Entscheidungsbefugnisse bei den Bundesländern. Doch nun | |
haben wir es mit einer neuen, von den meisten Mitbewerber:innen | |
sträflich unterschätzten Brisanz zu tun. Wo die demokratischen Kräfte keine | |
Angst vor Lücken zu haben scheinen, nutzen die Neurechten die Gelegenheit. | |
Ein ganzes Kapitel bietet die AfD an, um ihr politisches Kunstverständnis | |
zu präsentieren. Dem „repressive[n] kulturelle[n] Klima“, dem | |
vermeintlichen Gesinnungstotalitarismus, tritt man mit einem | |
pathostriefenden Freiheitsversprechen entgegen. | |
Alle Fesseln sollen gesprengt werden, insbesondere natürlich jene der | |
„Schamkultur“, „wie sie die postkolonialistische Ideologie in ganz Europa | |
etablieren will“. Die fragwürdigen Konsorten um den Spitzenkandidaten | |
Maximilian Krah zielen stattdessen auf die Stärkung des nationalistischen | |
Selbstverständnisses. Damit dies, wie vieles, nicht so schlimm klingt, | |
bedient man sich dafür positiv besetzter Begriffe. Weniger Europa ist dann | |
nichts anderes als gelebte Subsidiarität. | |
## Munterer Geschichtsrevisionismus der AfD | |
Dass die AfD also mit munterem Geschichtsrevisionismus und einem | |
allgemeinen Rollback wirbt, verdeutlicht im Umkehrschluss die wachsende | |
Bedeutung, die der Kulturpolitik schon jetzt zukommen müsste. Mit ihr | |
entscheidet sich nicht nur, wie frei Literat:innen, Musiker:innen und | |
Künstler:innen arbeiten können, sie erweist sich vielmehr als ein | |
Gradmesser für Liberalität und demokratische Stabilität der Gesellschaft | |
insgesamt. [1][Man muss seinen Blick nur nach Russland wenden,] wo Theater | |
und andere Einrichtungen entweder unterdrückt oder dem Propagandaapparat | |
einverleibt werden. | |
Zumindest die progressiven Gegner der Neurechten haben die Zeichen der Zeit | |
in puncto Kulturpolitik erkannt. Die Linken fordern beispielsweise eine | |
intensive Auseinandersetzung mit dem Erbe der Sklaverei in der EU und | |
treten für gerechte Entschädigungen für Opfer ein. Stärker flankiert werden | |
sollten zudem Restitutionen: Gefordert wird eine EU-weit gültige | |
Gesetzesgrundlage für die Rückgabe unrechtmäßig erworbener Kulturgüter aus | |
der Kolonial- wie der NS-Zeit. Und was plant man für die innereuropäischen | |
Kreativschaffenden? Analog zum Modell eines grenzüberschreitenden | |
Mindestlohns sollen Mindestgagen festgelegt werden. | |
Nationale Best Practice auf die supranationale Ebene auszuweiten, stellt | |
ebenfalls das Ansinnen der Grünen dar. Es gilt aus deren Sicht das Konzept | |
des deutschen Kulturpasses, der jungen Menschen früh kulturelle Teilhabe | |
ermöglicht, in ganz Europa zu etablieren. Darüber hinaus befassen sie sich | |
mit den Auswirkungen des technologischen Fortschritts auf die | |
Erwerbsbedingungen von Künstler:innen. Demnach soll das „Urheberrecht […] | |
weiterhin das kreative Schaffen natürlicher Personen schützen und darf | |
nicht auf automatisch generierte Inhalte von KI-Systemen ausgedehnt werden. | |
Urheber*innen wollen wir bei der fairen Vergütung ihrer Werke | |
unterstützen und gleichzeitig den Zugang zu Wissen und Kultur für alle | |
stärken.“ | |
Gewiss entdeckt man in der Gesamtschau so wichtige Einzelmaßnahmen. | |
Gleichwohl mangelt es an Bewusstsein für die großen Linien in der | |
Kulturpolitik. Mit welchen Lösungsansätzen erhält man durch Sparzwänge | |
bedrohte, kulturelle Einrichtungen? Und wie fördert man so etwas wie | |
europäisches Denken gerade dort, wo es allzu oft fehlt – in wirtschaftlich | |
abgehängten, ländlichen Gebieten? Zwar bedarf es sicherlich keines | |
geschlossenen Welt- und Kunstbildes, wie es die AfD offenbart, das den | |
kreativ Arbeitenden ja bloß andere Daumenschrauben anlegt, allerdings | |
scheint eine Erzählung vonnöten. | |
## Europa als festes Schulfach im Curriculum | |
Und davon gibt es durchaus einige, etwa in der Literatur. [2][Robert | |
Menasses] kluger EU-Roman „Die Hauptstadt“ entwirft etwa das Szenario einer | |
Europakapitale auf dem Gelände von Auschwitz, was letzthin als Symbol für | |
einen Zukunftsentwurf steht, der sich aus unserer Geschichte speist. Auch | |
viele Biografien von Künstler:innen sind durch und durch europäisch, | |
beispielsweise jene des Schriftstellers und Übersetzers José F. A. Oliver, | |
der mit andalusischen Hintergrund beim jährlichen Leselenz internationale | |
Autor:innen in sein Schwarzwalddorf Hausach einlädt. | |
Die europäische Kultur ist da und will vermittelt werden. Und die Politik? | |
Die sollte sich verstärkt um die Foren dafür bemühen. Warum nicht | |
Schreibwerkstätten bewusst in abgelegeneren Landstrichen finanzieren und | |
dort für Dialog sorgen? Warum nicht Europa ein Jahr lang als festes | |
Schulfach im Curriculum etablieren? Warum nicht Europatheater gründen, die | |
ähnlich den Landesbühnen durch die Regionen tingeln und dort das Denken | |
über den Tellerrand hinaus befördern? | |
Obschon die demokratischen Parteien in ihren Programmen größtenteils eher | |
vage bleiben, ist eine Stimme für sie natürlich nicht verloren. Im | |
Gegenteil: Sie stehen immerhin für den Erhalt des kulturellen Bestands. Der | |
ist, auch was die deutsche Kulturlandschaft anbetrifft, einzigartig – und | |
vor allem resilient. Zumal schon jetzt die AfD überall Versuche unternimmt, | |
Einfluss auf die Institutionen des freien Denkens zu nehmen. Die | |
Kreativschaffenden halten derweil mit großer Verve dagegen und bilden die | |
eigentliche Brandmauer gegen den Populismus. Glücklicherweise in ganz | |
Europa. | |
6 Jun 2024 | |
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## AUTOREN | |
Björn Hayer | |
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