| # taz.de -- Kriminologe über schießende Polizisten: „Es wird nicht gelehrt … | |
| > In Niedersachsen hat die Polizei einen Geflüchteten erschossen. Der | |
| > Polizeiforscher Rafael Behr spricht über Defizite in der Ausbildung. | |
| Bild: Ein Polizist übt das Schießen | |
| taz: Herr Behr, [1][mehrere Schüsse klingt nicht nach Notwehr]. | |
| Rafael Behr: In der Ausbildung lernen Polizist*innen zumindest zwei | |
| Schüsse abzugeben, sogenannte Dubletten. Zwei oder drei Schüsse sind | |
| durchaus noch nachvollziehbar, wenn es mehr sind, muss man sich fragen, ob | |
| derjenige die Kontrolle über die Situation hatte. | |
| Warum wird auf den Körper des Angreifers gezielt? | |
| Man unterscheidet Schüsse nach dem Polizeirecht, auf die Extremitäten, die | |
| nicht tödlich sein dürfen, und Schüsse in Notwehr, die auf den Körper | |
| abgegeben werden dürfen und den Gegenüber im schlimmsten Fall töten. | |
| Wie definiert man Notwehr für die Polizei? | |
| [2][Notwehr] ist juristisch dann gegeben, wenn ein unmittelbar | |
| bevorstehender Angriff auf das Leben oder die Gesundheit abzuwehren ist. | |
| Und Polizisten, die dazu da sind, Gefahren abzuwehren, gibt es nicht die | |
| Möglichkeit zu flüchten oder sich defensiv zu verhalten. Das heißt, | |
| Polizeibeamt*innen begeben sich berufsbedingt öfter in | |
| Gefahrensituationen, wo sie eventuell von ihrem Notwehrrecht Gebrauch | |
| machen müssen. Und etwas kommt noch hinzu: Viele Polizisten, in der Regel | |
| männliche, arbeiten in einem sogenannten Überwältigungsdispositiv, sie | |
| bringen sich häufiger in Notwehrsituationen. Sie sind gewohnt anzugreifen | |
| und nicht abzuwarten. Die Kultur der Überwältigung ist tief in die | |
| Polizistenkultur eingeflochten. Es wird nicht gelehrt wegzugehen, sondern | |
| zuzupacken. Das wird dann zum Problem, wenn dieses Verhalten zur Routine | |
| wird und den Raum der Verhältnismäßigkeit verlässt. | |
| Lernt man Verhältnismäßigkeit in der Ausbildung? | |
| In der Ausbildung lernen die Polizist*innen Entscheidungen zu treffen. | |
| Schießen, nicht Schießen. Es werden Fallkonstellationen unter | |
| Laborbedingungen trainiert. Es gibt Schießkinos, wo die Polizist*innen | |
| in filmischen Situationen lernen sollen, schnelle Entscheidungen zu | |
| treffen. Dafür werden Bilder gewählt, die eindeutig sind. Zum Beispiel, | |
| großer Mann mit einer Axt oder Frau mit Kinderwagen. Die Wirklichkeit ist | |
| selten so eindeutig. Ich will die Polizisten nicht in Schutz nehmen, aber | |
| manchmal ist es schwierig, Situationen eindeutig zu bewerten. | |
| Was lernen Polizist*innen in der Ausbildung über den Umgang mit | |
| psychisch erkrankten Personen? | |
| Psychische Erkrankungen sind in der Theorie ein Thema, geübt wird der | |
| Umgang mit solchen Personen nicht. Im Einsatz steht meist der gefährliche | |
| Mensch im Mittelpunkt, der Angreifer, und nicht der kranke Mensch. Hier | |
| besteht ein Defizit. | |
| Wo sehen Sie in der Ausbildung Handlungsbedarf? | |
| Die Ausbildung läuft immer darauf hinaus, dass die Polizei als Sieger vom | |
| Platz geht. Die Simulationen zielen auf ein erfolgreiches Ende. Und wenn es | |
| nicht erfolgreich ist, unterbricht der Ausbilder die Übung und sagt: | |
| Versuch es nochmal. Das Bewusstsein, dass man auch mal scheitern muss, ist | |
| ganz gering ausgeprägt. Eine Fehlerkultur gibt es so gut wie nicht. | |
| 6 Oct 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Juliane Preiß | |
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