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# taz.de -- Kolumne Nüchtern: Spaßbremse oder Fanatiker?
> Alle Jahre wieder folgt der Ruf nach einem kollektiven Dauerrausch. Kein
> Grund, die Feiertage nicht doch nüchtern zu verbringen.
Bild: Kein Alkohol an Feiertagen? Dafür sollte man besser einen triftigen Grun…
Es hat sicherlich seinen anthropologischen Sinn, dass wir die
Weihnachtszeit in Deutschland als einen institutionalisierten Dauerrausch
aus Rumrosinen, Glühweinexzessen und Festtagschampagner begehen.
Der eine oder andere philosophierende Kulturtheoretiker hat bestimmt schon
einen Aufsatz über das Trinken im Advent als einen gesellschaftlich
geradezu überlebenswichtigen Unterbrechungsritus geschrieben. Egal
natürlich, wie schnell darauf die ebenso anstrengenden, kollektiven
Selbstverbesserungsversuche folgen und die nächste
Gibt-es-Burnout-wirklich?-Gesellschaftsdebatte.
Was die schönste Zeit des Jahres für den nichttrinkenden Menschen zu einer
oft unschönen Zeit macht, ist der Umstand, dass er sich im Dezember noch
mehr gegen allen möglichen Unsinn wappnen muss als sonst.
Denn wer nicht einmal zu dieser Zeit des Jahres trinkt, begeht in
Deutschland, ob auf der Weihnachtsfeier im Büro, beim Adventskaffeetrinken
des befreundeten Paares oder beim Familienbesuch unterm Weihnachtsbaum ein
Sakrileg. Er verstößt, ob er es will oder nicht, gegen ein ungeschriebenes
Gesetz und fühlt sich häufig so, als hätte er Baby-Jesus persönlich zum
Kreuz geschickt. Die Leute wollen es sich schön machen zu dieser Zeit des
Jahres, und das geht bekanntlich nur, wenn ALLE trinken.
## Angewiderte Betroffenheit
Die Vorurteile, die einem als Nichttrinker entgegenschlagen, variieren von
Milieu zu Milieu. Sie reichen von einer mild angewiderten Betroffenheit
über den leidenschaftlich zum Ausdruck gebrachten Verdacht, es hier mit
einem jener schlimmen Gesundheitsfanatiker zu tun zu haben, bis zum relativ
brutalen, aber oft nicht einmal unsympathischen Aufruf, doch nicht so eine
Spaßbremse zu sein.
Was dabei mitschwingt, ist natürlich immer die Angst, von den nüchternen
Zeugen für das eigene Rauschverhalten verurteilt zu werden. Aber das würde
niemand zugeben.
Deswegen muss man sich als nicht trinkender Mensch daran gewöhnen, dass man
oft aufgefordert wird, man solle doch hier den moralischen Zeigefinger
nicht erheben – auch wenn man nur sagt, „Nein, danke. Ich nehme ein
Mineralwasser.“
Es ist Menschen schwer zu vermitteln, dass man nicht mehr trinkt, weil es
wirklich schmerzhaft war, zu viel zu trinken, und weil man irgendwann
wusste, dass man den Schritt von der schlechten Gewohnheit zur Abhängigkeit
schon lange gemacht hatte, und zwar ohne es auch nur zu bemerken
Ich kann nur schwer erklären, wie depressiv ich war, wie unglücklich und
soziopathisch ich mich fühlte, wie viel Schuldgefühle ich hatte, wie sehr
mich die Gewissheit begleitete, dass mir mein Leben entglitt, obwohl von
außen gesehen alles in Ordnung schien. Ich kann es nur schwer beschreiben,
wie es sich anfühlt, innerlich tot zu sein.
## Recht auf Feiertagsrausch
Ich möchte niemanden das Recht auf den Feiertagsrausch nehmen, auch nicht
das auf die eigene Selbstzerstörung. Ich habe an dieser Stelle schon oft
erwähnt, dass es mir völlig egal ist, ob und wie viel Leute trinken, auch
dass ich nichts von Verboten halte und dass, solange man es noch kann,
jeder selbst entscheiden muss, wie viel Alkohol sein Leben verträgt.
Doch ich glaube, dass die meisten Leute diese Entscheidung uninformiert
treffen. Die meisten Leute wissen nicht, dass jeder schlimme Trinker einmal
ein glücklicher Trinker war, dass „ein bisschen abhängig“ zu sein so etwas
ist wie sich „ein bisschen schwanger“ zu fühlen.
Und die meisten Leute wissen auch nicht, was Abhängigkeit aus dem eigenen
Leben macht, wie schleichend sie jedes Vertrauen zersetzt, wie nachhaltig
sie Beziehungen und Familien in Gefängnisse aus Angst und ohnmächtiger Wut
verwandeln kann.
Gerade zu Weihnachten mag niemand über Alkoholismus nachdenken. Als eine
konkrete Krankheit, in deren desaströse Flugschneise jeder von uns geraten
kann. Dabei wäre es die beste Zeit dafür. Frohes Fest!
1 Dec 2013
## AUTOREN
Daniel Schreiber
## TAGS
Feiertage
Rausch
Abhängigkeit
Abhängigkeit
Arbeit
Alkoholismus
Alkoholmissbrauch
Manhattan
Streitfrage
Glühwein
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