| # taz.de -- Kolumne Nüchtern: Nicht genug, so wie sie sind | |
| > Die meisten Menschen wollen sich gar nicht die ganze Zeit selbst | |
| > optimieren. Aber Zwänge sind immun gegen Fragen der Vernunft. | |
| Bild: Hallo Bürohengst, man darf auch mal krank sein. | |
| Als ich Montagmorgen im Sprechzimmer meines Hausarztes saß, ging mir auf, | |
| dass ich mich schon seit Wochen nicht an das halte, was ich mir immer | |
| wieder fest vornehme, seit ich nüchtern bin: mich besser um mich zu | |
| kümmern. Ich hatte gerade die ersten fünf zusammenhängenden Tage seit dem | |
| Sommer „freigenommen“, und zwar nur, weil eine schmerzhafte | |
| Nasennebenhöhlenentzündung mich lahmgelegt hatte. | |
| Dabei hätte ich allen Grund gehabt, kürzer zu treten. Anfang des Monats | |
| hatte ich nach einem Jahr Arbeit das Manuskript für das neue Buch an meinen | |
| Verlag geschickt und war sogar ganz glücklich damit. Fast jeder meiner | |
| Freunde und Bekannten hatte gesagt, dass es nun an der Zeit wäre, Urlaub zu | |
| machen. | |
| Während ich nervös an die noch zu schreibenden Texte dachte und auf ein | |
| Rezept wartete, das sofort helfen würde – auch die erlaubte Höchstdosis | |
| Ibuprofen senkte das Fieber nur unzuverlässig –, sagte der Arzt ruhig, dass | |
| wir manchmal krank seien und dass das zum Leben dazugehöre. Und weil er | |
| neulich mal aus Zufall diese Kolumne gelesen habe, glaube er mir auch sagen | |
| zu können, dass man das einfach akzeptieren müsse. Manchmal müsse man durch | |
| so etwas eben einfach mal durch. Es tat gut, das zu hören. | |
| Ich habe das Gefühl, dass das Eigenschaften sind, die Abhängige auch mit | |
| einigen anderen Menschen teilen: diese Unfähigkeit, auf sich und die | |
| Grenzen seines Körpers zu hören, dieser gewisse psychische Thrill in | |
| besonders stressigen oder dramatischen Situationen – ein Thrill, der nicht | |
| angenehm, aber angenehm vertraut ist. | |
| Natürlich muss man heute tatsächlich ziemlich viel machen, um als Autor | |
| über die Runden zu kommen. Das kann anstrengend sein. Aber war es wirklich | |
| nötig gewesen, die seit Wochen immer mal wieder aufkommenden | |
| Erkältungssymptome „durchzuarbeiten“ oder mit verschiedenen | |
| Erkältungsmitteln wegzudrücken? War die jeweilige Deadline wirklich immer | |
| wichtiger gewesen? | |
| ## Zu hohe Ansprüche | |
| Als ich noch getrunken habe, war die Sache klar: Das viele Trinken und das | |
| viele Arbeiten bedingten sich gegenseitig, das eine hätte ich ohne das | |
| andere nicht ausgehalten. Aber inzwischen mache ich etwas, das mich | |
| tatsächlich irgendwie glücklich macht und in dem ich so etwas wie Sinn | |
| sehe. Trotzdem passiert es mir wieder, dass ich viel zu hohe Ansprüche an | |
| mich stelle und Sachen verlange, die ich von anderen nicht verlangen würde. | |
| Das setzt ganz automatisch ein. | |
| Ich glaube auch, dass die philosophischen Selbstoptimierungsanklagen, die | |
| seit ein paar Jahren in Mode gekommen sind – denken Sie etwa an Rahel | |
| Jäggis „Kritik von Lebensformen“ oder an Ariadne von Schirachs gerade | |
| erschienenen Essay „Du sollst nicht funktionieren“ –, an diesem | |
| entscheidenden Punkt falsch liegen: Die meisten Menschen sind eigentlich | |
| ganz zufrieden mit sich und wollen sich gar nicht die ganze Zeit selbst | |
| optimieren. | |
| Die Menschen, die das wollen, machen das nicht, weil sie Opfer einer | |
| falschen Ideologie geworden sind, sondern weil es ein innerer Zwang ist, | |
| weil eine bestimmte Instanz in ihnen glaubt, dass sie nicht genug sind, so | |
| wie sie sind. Dem kann man nicht mit rationalen oder philosophischen | |
| Argumenten beikommen. Zwänge sind immun gegen Fragen der Vernunft. Gegen | |
| sie hilft es nur, so oft gegen die Wand zu fahren, bis man wirklich | |
| versteht, dass es so nicht weitergeht. | |
| Ich verließ die Arztpraxis zufrieden und legte mich, als ich zuhause war, | |
| wieder ins Bett. Ich verstehe inzwischen überhaupt nicht mehr, wie ich | |
| jemals einen dieser Katertage von damals überstanden habe. Die | |
| Fieberschmerzen waren schlimm, aber im Vergleich zu den Kopfschmerzen und | |
| Magenproblemen von früher ein Spaziergang. Irgendwann werden sie | |
| vorbeigehen. Kranksein gehört zum Leben. So blöd das auch klingt. | |
| 28 Feb 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Daniel Schreiber | |
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