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# taz.de -- Daniel Schreibers neues Essaybuch: Sehnsucht nach Heimat
> Der Autor und ehemalige taz-Kolumnist Daniel Schreiber sucht in seinem
> Essaybuch nach biografischen Brüchen und geografischen Verortungen.
Bild: In New York fühlte sich der Autor Daniel Schreiber zuhause
Weltweit leben 250 Millionen Menschen in einem anderen Land, als sie
geboren wurden. Das sind 40 Prozent mehr als noch vor 15 Jahren. Und nicht
nur international wird in nie gekanntem Ausmaß um-, weg- und weitergezogen,
sondern auch vom Dorf in die Metropole, von der einen Stadt in die andere.
Wer lebt heute schon noch da, wo bereits seine Großeltern lebten?
Zwar wechseln seit jeher Menschen ihren Wohnort weil sie woanders bessere
Zukunftschancen sehen oder um Gefahr und Armut zu entkommen, doch hat
Migration in den letzten Jahrzehnten eine ganz neue Dimension entwickelt
und es sind auch die gut ausgebildeten Eliten und wirtschaftlich
Erfolgreichen, die hoch mobil in der Welt unterwegs sind.
Daniel Schreiber kennt man als Kunstkritiker und Susan-Sontag-Biograf, er
verfasst lebenskluge Essays, die sich mit jenen einer Joan Didion messen
lassen können. Schreiber ist auf den ersten Blick typischer Vertreter eines
weltgewandten, kunstaffinen akademischen Milieus, in dem es zum
Selbstverständnis gehört, flexibel dahin zu gehen, wo interessante Arbeit
wartet und es sich gut leben lässt. 1977 in der DDR geboren, hat er sein
Erwachsenenleben weitgehend auf Reisen und in den schönsten Vierteln
aufregender Städte dies- und jenseits des Atlantiks verbracht.
Dass ausgerechnet Schreiber sein neues Buch „Zuhause“ nennt, erstaunt daher
erst einmal. Ist das nicht ein Thema für Spießer und reaktionäre Ideologen?
Das Geschäftsmodell der Illustrierten, die immer zahlreicher am
Bahnhofskiosk herumliegen, „Zuhause Wohnen“ oder „Landlust“ heißen und…
unseren unsicheren Zeiten als eine Art Gemütlichkeitsporno großen Erfolg
haben?
## Die „Umzugsdepression“
Hat nicht gerade den Deutschen das 20. Jahrhundert eine berechtigte Skepsis
gegenüber Konzepten wie „Zuhause“ oder gar „Heimat“ eingeschärft? Sch…
den ersten Seiten wird deutlich, wie sehr das Thema lohnt. Gewiss liegt
auch viel Positives in den Möglichkeiten einer globalisierten Welt und im
Weggehen und Umziehen, vor allem, wenn sich jemand aus unguten
Verhältnissen befreien kann. Doch gehen damit auch erhebliche Belastungen
und Zumutungen einher. Dass Flucht und Vertreibung zu psychischen
Erkrankungen führen können, ist evident. Aber auch die „Umzugsdepression“
ist ein feststehender Begriff in psychotherapeutischen Praxen.
„Zuhause“ ist, daran lässt Schreiber keinen Zweifel, zwar immer ein
Konstrukt, heißt für jeden etwas anderes. Und die Bedeutung hat sich in den
Zeiten stark gewandelt. Doch scheint es die Antwort zu sein auf ein
anthropologisches Grundbedürfnis nach Geborgenheit, Sicherheit und
Verortung. Verwurzelung ist, so zitiert der Autor die französische
Philosophin Simone Weil, „das wichtigste und wohl verkannteste Bedürfnis
der menschlichen Seele“.
Wie bereits im Fall seines Bestsellers „Nüchtern“ (2014), in dem er über
Alkoholsucht und das Davonloskommen schreibt, entwickelt Schreiber auch
diesen Essay konsequent aus seiner eigenen Geschichte heraus. Viele seiner
Freunde gründeten Familien oder kauften sich gerade Wohnungen, als
Schreiber vor einigen Jahren das Zerbrechen einer Liebe verkraften musste,
allein in London, und in eine Lebenskrise geriet, die ihm klarmachte, dass
er sich nirgends zuhause fühlte und dass das ein Problem darstellte.
## Erst der Verlust zeigt die Bedeutung
Mit dem „Zuhause“ ist es nämlich ganz ähnlich wie mit anderen Grundlagen
unseres Wohlbefindens, etwa der Gesundheit. Erst im Verlust wird einem die
fundamentale Bedeutung so richtig bewusst. Sei es, weil man sich da, wo man
wohnt, nicht mehr zuhause fühlt, sei es, weil man sich gezwungen sieht,
sein Zuhause zu verlassen. Heimweh wurzelt ebenso wie die Sehnsucht
wegzugehen in dem Bedürfnis, da zu leben, wo man leben will und zu sich
kommen kann.
In sehr schön geschriebenen Erinnerungen und stringent daraus entwickelten
kulturkritischen und philosophischen Reflexionen nimmt uns Schreiber mit
auf seine ganz persönliche Suche nach einem Zuhause und einer Antwort auf
die Frage, warum diese Suche für ihn so schmerzhaft war. Er erzählt von
seiner Kindheit in Mecklenburg-Vorpommern, die für ihn, der anders war als
die anderen, schon im Kindergartenalter von Gewalt und Ausgrenzung geprägt
war. Von einer Lehrerin, die den feminin wirkenden Jungen „normal machen“
und in ein Heim für schwer erziehbare Kinder einweisen wollte. Eine
Kindheit, in der selbst die Liebe der Eltern und Geschwister den Jungen
nicht bewahren konnten vor dem Gefühl, grundlegend falsch und fehl am Platz
zu sein.
## Glückliche Zeit
Er nimmt uns auch mit in die glückliche Zeit, als New York dem jungen
Erwachsenen für ein paar Jahre ein Zuhause wurde, wo er zum ersten Mal als
Schwuler keine Diskriminierung erfahren musste und erleben durfte, dass
auch Kultur, Kunst und Intellektualität einem eine Art Zuhause sein können.
Man folgt ihm sogar gern nach Berlin, wo er über lange Zeit von
Fremdheitsgefühlen und depressiven Phasen geplagt wurde. Er beschreibt, wie
er stundenlang durch die Straßen Berlins lief, sich Tag um Tag der Stadt
ein Stück mehr öffnete, wie er anfing, seine Wohnung, – vorher nur eine Art
Homebase für ein Nomadenleben – einzurichten. Es ist erstaunlich, dass es
einen so gar nicht langweilt oder nervt, wie der vergleichsweise junge
Autor schließlich fast altersweise für den Alltag, für Geduld und das
Unspektakuläre wirbt und seine Dankbarkeit dafür zum Ausdruck bringt, sich
am Ende eines langen, schweren Prozesses doch noch in Berlin-Neukölln
zuhause fühlen zu dürfen. Es sind Schreibers unverwechselbarer Stil, der
schonungslose Ehrlichkeit mit einer großen Diskretion verbindet, und der in
jedem Absatz spürbare innere Drang, den eigenen Schmerz zu verstehen, die
bewirken, dass man das Buch mit klopfendem Herzen liest und gar nicht mehr
weglegen möchte.
Wie Schreiber immer nur von der persönlichen Erfahrung auszugehen, birgt
sicherlich die Gefahr der Nabelschau. So hat die berührende Geschichte der
Urgroßmutter, die aus der heutigen Ukraine vertrieben wurde, in die Wirren
der beiden Weltkriege geriet und letztlich in Brandenburg landete, wo sie
sich bis zu ihrem Lebensende fremd fühlte, vor allem die Funktion,
Schreibers eigene Geschichte besser zu verstehen. Aber da der Autor
konsequent die These entfaltet, dass, sosehr es eine individuelle Leistung
ist, sich ein Zuhause aufzubauen, es immer auch um Gemeinschaft geht, ist
das Buch gesellschaftlich hoch relevant und von bestürzender Aktualität.
Denn man kann sich nur zuhause fühlen, wo man nicht in Frage gestellt wird.
Da, wo man diskriminiert, ausgegrenzt oder unterdrückt wird, geht das
nicht.
Es ist schwer, dieses Buch zu lesen, ohne sich zu fragen, was aus all den
Menschen werden soll, die derzeit auf der Flucht sind, aus ihren Kindern
und Kindeskindern. Man denkt an all jene, deren Zugehörigkeit in Frage
gestellt wird, nur weil sie vielleicht ein Kopftuch tragen, offensichtlich
transgender sind oder dunkle Haut haben. Und an die Skrupellosigkeit, mit
der Minderheitenrechte plötzlich wieder in Frage gestellt werden.
## Große Fragen stellen
Schreiber beherrscht die Kunst, große Fragen zu stellen, ohne jemals
explizit werden zu müssen. Könnte man am Anfang des Buches kurz glauben,
Schreiber schildere bloß die selbst gewählten Luxusprobleme junger „global
citizens“, befindet man sich rasch in einer unerbittlichen Gedankenbewegung
in die Tiefe, die am Schluss unmittelbar ins politische Bewusstsein führt.
Nicht nur deshalb lohnt es sich, das Buch zu lesen. Es ist ein weiterer
Beweis dafür, dass einem schöne Sprache und gute Literatur auch ein Zuhause
sein kann.
19 Mar 2017
## AUTOREN
Christine Regus
## TAGS
Umzug
Zuhause
Einsamkeit
Schwerpunkt Rassismus
Alkoholismus
Alkoholismus
Alkohol
Alkohol
Abhängigkeit
Arbeit
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