# taz.de -- Kolumne Mittelalter: Mittelerde, mit ruhig festem Schritt | |
> Den „Herrn der Ringe“ zu lesen, war einst Weltflucht und Abenteuer. Die | |
> Filme zu sehen, sogar das Buch vorzulesen, kann heute Zumutung sein. | |
Bild: Erstausgabe von J. R. R. Tolkiens „The Hobbit“ | |
Zu den gelungensten Passagen des Fantasy-Romans „Der Herr der Ringe“ | |
gehören zweifellos diejenigen, denen die Verfilmung erspart geblieben ist – | |
also etwa das sechste Kapitel des ersten Bandes „Der Alte Wald“: Hier haben | |
Gestalten und Gespräche beim Lesen und Vorlesen noch einen Zauber gewahrt, | |
bei dem man nicht sofort an überteuerte Merchandising-Produkte denken muss. | |
Noch massiver fantasieabtötend als die Ringe-Trilogie ist die filmische | |
Dreiteilung des „Hobbit“. Als ich mir den dritten Part aus Gründen | |
allgemeiner Ermattung vor Kurzem ansah, meinte meine nebenan wirkende | |
Freundin, die Tonspur klänge wie ein Sadomasoporno: Immer nur ah, uuh, ooh, | |
ärgh! | |
Wirklich alles in dieser Verfilmung sieht aus wie auf dem Mittelaltermarkt | |
in Berlin-Spandau, und man wartet nur auf den Ork, der sich im Hintergrund | |
mal eben eine Zigarette dreht. | |
Beim an Büchern wenig interessierten 11-jährigen Sohn hat Tolkiens „Herr | |
der Ringe“-Werk beim Vorlesen eine sehr interessante Wirkung – nämlich eine | |
dem genau entgegengesetzte, welche durch die krampfhafte Aufladung mit | |
Action-Elementen in den Filmen beabsichtigt ist. Schon nach wenigen Seiten | |
schläft der Knabe tief und fest, erinnert sich allerdings am nächsten | |
Morgen noch erstaunlich genau an Begebenheiten und Formulierungen aus dem | |
Buch. | |
Für den Sohn hat Mittelerde ganz offensichtlich eine andere Funktion als | |
für mich im gleichen Alter Ende der 1970er Jahre. Damals war Tolkien der | |
Meister der Weltflucht, die Chance, wenigstens eingetaucht in grüne | |
Bücherrücken und Landkarten etwas wirklich Abenteuerliches und Sinnvolles | |
zu erleben. | |
Wenn Aragorn das Horst-Wessel-Lied summt | |
Mein Sohn, der in einer viel besseren Welt eine interessantere (aber | |
natürlich nicht ungefährlichere) Kindheit lebt, braucht Frodo und Co. nicht | |
als Kick, sondern als Beruhigungsmittel. | |
Stören können da nur gewisse Passagen, die einen unweigerlich in die | |
Gegenwart zurückführen. Über die Zustände im Dörfchen Bree etwa wird | |
gesagt: „ Im Süden ging es drunter und drüber, [. . .] die Menschen | |
schienen auf Wanderschaft gegangen zu sein , um nach Ländern zu suchen, wo | |
man sie mehr oder weniger in Frieden ließe. Die Breeländer zeigten | |
Verständnis, aber keine Bereitschaft, in ihrem kleinen Ländchen Scharen von | |
Fremden aufzunehmen.“ | |
Befinden wir uns plötzlich also statt in Mittelerde in Mittelsachsen? Und | |
die folgende Passage aus der „Riddermark“klingt nicht viel weniger | |
verklemmt-einheimisch: „In besseren Zeiten haben wir Gäste freundlicher | |
empfangen, doch in diesen Tagen findet uns der unerwünschte Fremde kurz | |
angebunden und hart“. Wie Kruppstahl eben. | |
Kaum beruhigender ist die Frage, welches Liedlein da [1][Aragorn] wohl | |
leise vor sich hin pfeift, wenn er seine „ruhigen, festen Schritte“ in | |
Moria setzt. Was bitte haben Horst-Wessel-Verse unter dem Nebelgebirge zu | |
suchen? | |
Und während der Sohn schon längst sanft entschlafen ist, liegt der Vater | |
noch wach und fragt sich, ob die dumpf-banal-kitschige Ästhetik der Filme | |
nicht vielleicht doch die zeitgemäße Adaption des ganzen „Herrn der | |
Ringe“-Kosmos ist. | |
13 Feb 2017 | |
## LINKS | |
[1] https://books.google.de/books?id=1rn3CAAAQBAJ&pg=PT358&lpg=PT358&am… | |
## AUTOREN | |
Ambros Waibel | |
## TAGS | |
J. R. R. Tolkien | |
Fremdenfeindlichkeit | |
Mittelalter | |
Antideutsche | |
Schwerpunkt Deniz Yücel | |
Alternative für Deutschland (AfD) | |
Björn Höcke | |
Schwerpunkt Überwachung | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kolumne Mittelalter: Schweigen ist old | |
Wer älter wird, redet weniger. Einige Notizen zur stillen Phase des Lebens, | |
nebst einiger literarischer Verweise auf dieselbe. | |
Kolumne Mittelalter: Unter Deutschen | |
Mohamed Amjahid schreibt was Lustiges und Antideutschland nimmt übel. Zeit, | |
die Schreib-und-denk-Linke zu verabschieden. | |
Kolumne Mittelalter: Größer als diese Herren | |
Die Helden der Kindheit lebten in Büchern. Die Helden von heute sitzen im | |
Knast – und müssen sich dafür von niemandem bekritteln lassen. | |
RBB-Doku „Stunde der Populisten“: Völkische Berliner | |
Die Doku „Die Stunde der Populisten“ zeigt, wie die AfD im Jahr der | |
Bundestagswahl ihren Machtplan vorantreibt. Es sieht düster aus. | |
Kolumne Mittelalter: Das Höcke-Holm-Gefühl | |
Stolz sein auf Deutschland, stolz sein auf Berlin? Sich auf Dinge etwas | |
einzubilden, zu denen man nichts beigetragen hat, geht nie gut aus. | |
Kolumne Mittelalter: Glaube, Liebe, Hoffnung | |
Jedesmal, wenn wir rausgehen, hoffen wir, dass sich die anderen an die | |
Verabredung halten: das fremde Leben so wichtig zu nehmen wie das eigene. |