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# taz.de -- Kolumne Mittelalter: Schweigen ist old
> Wer älter wird, redet weniger. Einige Notizen zur stillen Phase des
> Lebens, nebst einiger literarischer Verweise auf dieselbe.
Bild: Der alternde Mensch verteidigt sein Menschsein, indem er öfter schweigt
Wer älter wird, wird stummer – oder sollte es jedenfalls sein, will er
weiterhin ernst genommen werden oder wenigstens beliebt bleiben: Weder die
eigenen Kinder noch die jüngeren Menschen um einen herum goutieren es, wenn
Papa vom Nachkrieg erzählt. Auch seinem Partner gegenüber tut der
mittelalte Mensch gut daran, sich zurückzuhalten, denn ob er nun seine
größten oder seine peinlichsten Momente zum Besten gibt – die dazwischen
sind eh langweilig –, er kann nur verlieren: an Respekt und an
Attraktivität, gerade den beiden Attributen also, die ohnehin im Schwinden
begriffen sind.
Im besten Fall redet der alternde Mensch nur dann von sich, wenn er gefragt
wird, womit er sich merkwürdigerweise in das liebevoll-autoritär erzogene
Kind zurückverwandelt, das er einst gewesen ist.
Dieses zwangsentdeckte Kind im Mann macht aus den Jüngeren die eigentlich
redeermächtigten Erwachsenen. Sie dürfen mit der Blasfreude von Babywalen
Wortfontänen in die Gesprächsrunden sprühen und sehen bezaubernd dabei aus,
ganz im Sinne des schönen Dialogs aus Georg Büchners Stück „Dantons Tod“:
Camille: Was sagst du, Lucile?
Lucile: Nichts, ich seh dich so gern sprechen.
Camille: Hörst mich auch?
Lucile: Ei freilich!
Camille: Hab ich recht? Weißt du auch, was ich gesagt habe?
Lucile: Nein, wahrhaftig nicht.
## Das Verstummen ist vollkommen
Der ältere Mensch verstummt nämlich nicht nur, weil er lebensklug weder die
eigene noch die Zeit der anderen zu verschwenden beabsichtigt; sondern, aus
demselben Grund, hört er auch weniger genau zu – es sei denn, er wollte
damit etwas erreichen: Nichts schließlich bringt einen in
zwischenmenschlichen Affären weiter als das Zuhören.
Dafür, dass er stumm geworden ist, wird der ältere Mensch paradoxerweise
aber auch angegriffen: Warum er denn gar nichts mehr sage, so ein alter
Grantler geworden sei etc. Hier kann man an den sowjetischen Schriftsteller
Isaak Babel denken, der ebendiese Doppelbotschaft unter deutlich
dramatischeren Umständen auszuhalten hatte. Alle, klagte Babel kurz vor
seiner Verhaftung, fragten ihn, wann er Neues publiziere, aber wenn er es
denn unter dem Regime Stalins tatsächlich täte, dann – „Addio Mare“. Die
Anekdote beschreibt auch noch die zugehörige Handbewegung Babels – die Hand
schneidet die Gurgel durch, das Verstummen ist vollkommen.
Wenn Sie nun berechtigterweise anmerken, dass Sie privat, in der Arbeit
sowie nicht zuletzt im öffentlichen Raum von die Worte kaum halten
könnenden melierten Wut- und Wichtigbürgern umzingelt sind, dann kann ich
für meine Zwecke hier nur sagen: Der abschließende Grund, warum der
alternde Mensch sein Menschsein verteidigt, indem er zunehmend schweigt,
sind die anderen alternden Menschen. Am Ende nicht nur dieses Textes hier
steht man eben immer alleine da. Pier Paolo Pasolini: „La mia indipendenza,
che è la mia forza, implica la solitudine, che è la mia debolezza.“ Meine
Unabhängigkeit, die meine Stärke ist, bedingt die Einsamkeit, die meine
Schwäche ist.
4 May 2017
## AUTOREN
Ambros Waibel
## TAGS
Mittelalter
Altern
Literatur
Kolumne Hot und hysterisch
Mittelalter
Antideutsche
Schwerpunkt Deniz Yücel
J. R. R. Tolkien
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